Fake or Fact?
Haarlocke von Johannes Brahms (1833–1897)
Beitrag von Lea Kollath
Düsseldorf 1854
Nachlass Clara Schumann, 2019 erworben vom Brahms-Institut an der Musikhochschule Lübeck
Ich möchte die Spur meiner Kollegin Teresa Ramming weiterverfolgen – und auch ich sage: Ja, Clara Schumann und Johannes Brahms waren heimlich ein Paar! Es spricht sogar einiges dafür, dass der von meiner Kollegin erwähnte Abschiedsbrief keineswegs das Ende der heimlichen Liebschaft bedeutete. Denn kürzlich wurde auf einem Dachboden ein lange Zeit verschollen geglaubtes Buch aus dem Nachlass Clara Schumanns entdeckt: Die Lebensansichten des Katers Murr aus der Feder des romantischen Schriftstellers E.T.A. Hoffmann.
Das eigentlich Spektakuläre an dem Fund ist jedoch eine goldblonde Haarlocke, die zwischen den Seiten lag und die Sie hier heute in einer der Vitrinen sehen können. Dazu folgende Widmung auf dem Vorsatz des Buches: „Meiner herzlieben Frau Clara. Düsseldorf im Juni 1854. Joh. Brahms“. Es lässt sich dank dieser Zeilen mit großer Wahrscheinlichkeit sagen, dass die Haarlocke von dem damals 21-jährigen Brahms selbst stammt – eine sehr intime Geste mit der Botschaft: „Vergiss mich nicht!“
Doch damit nicht genug – noch tiefere Einblicke in das Gefühlsleben der beiden Musikerpersönlichkeiten gewährt uns ein Eintrag in Clara Schumanns Handschrift auf der letzten Seite des Buches. Es handelt sich um einen Ausspruch des Barockdichters Abraham a Sancta Clara: „Es waren seine Haarlocken den geflochtenen Goldfaden nicht ungleich, wohl recht nennt man sie Haarlocken, weil sie gar oft unbehutsame Augen pflegen zu locken.“ Damit steht fest: Auch Clara Schumann, die sich in ihren Briefen an Brahms bedeckter hielt als dieser selbst, fühlte sich noch nach Dezember 1853 stark hingezogen zu dem jungen und attraktiven Komponisten und ließ eben doch nicht alles Opfer des Feuers werden – sie hat es wohl einfach nicht über´s Herz gebracht.
Doch warum fiel Brahmsʼ Wahl gerade auf den Roman Lebensansichten des Katers Murr? Hier hilft uns eine Briefstelle weiter, in der Brahms die Protagonistin des Romans – Julia – mit Clara Schumann vergleicht, während er selbst ihr Verehrer, der Kapellmeister Kreisler ist. Brahms, der sich bereits seit längerer Zeit „Kreisler junior“ nannte und damit sogar einige Kompositionen unterschrieb sah sein reales Leben samt dem besonderen Verhältnis zu Clara Schumann in Hoffmanns Roman gespiegelt. Also ein Buch mit einer besonderen Bedeutung für das verliebte Paar.
Innerhalb der musikwissenschaftlichen Forschung sind wir dank der beiden hier ausgestellten Funde demnach nicht länger nur auf Spekulationen angewiesen. Die pikante Frage ist beantwortet und wir können in Zukunft auch auf lyrische Ergüsse der spekulativ-erotischen Art aus der Feder von Musikwissenschaftlern und gleichzeitigen Hobby-Dichtern verzichten – wie auf diesen hier, den man in einer nie fertig gestellten Dissertation über das Verhältnis des Paares gefunden hat:
Sprach Brahms zu Clara Schumann einst: Ich liebe dich?
Und spielte sie ihm vor in trauten Dämmerstunden,
die Blicke tief, im Herzen eins, im Geist verbunden?
Und raunte sie ihm dann ins Ohr: Vergiss mich nicht?
Zog sie ihn sehnend zu sich: Liebe! Heile! Tröste!
Bis sich die heißen Lippen treffen, stammelnd-kosend,
und wehte ihm ein Duft von roten Sommerrosen
Entgegen als er ihr das Mieder zitternd löste?
Fuhr sie ihm, glühend, sehnend, durch das goldʼne Haar?
Wer weiß? Was soll´s, zu gönnen wärʼ es ihnen ja!
Fake or Fact? Auflösung
Die Haarlocke stammt selbstverständlich (leider) nicht von Johannes Brahms und auch das Mysterium um die mögliche Liebschaft zwischen Clara Schumann und dem jungen Komponisten muss ein solches bleiben. Dass aber offenbar eine starke Anziehungskraft zwischen den beiden Musikerpersönlichkeiten bestand und insbesondere Brahms über beide Ohren verliebt war in die 14 Jahre ältere Pianistin, wird aus dem sehnsuchtsvollen Briefwechsel deutlich. Auch dass E.T.A. Hoffmanns Roman Lebensansichten des Katers Murr eine bedeutende Rolle innerhalb ihrer Kommunikation eingenommen hat, entspricht der Wahrheit – wenngleich Brahms seiner Freundin nie ein Exemplar dessen schenkte. Die beiden haben sich allerdings gegenseitig andere Buch-Geschenke gemacht, wodurch der Gedanke im Grunde nicht abwegig ist. Dass Brahms sich selbst als „Kreisler junior“ gesehen hat und Clara als dessen Angebetete Julia, lässt sich ebenfalls im Briefwechsel nachvollziehen. Die wahre Herkunft des Gedichts am Ende soll indessen nicht verraten werden, denn was wäre die Welt ohne Geheimnisse?