Diana Schweitzer
Vom Augusterlebnis zur ›fehlenden‹ Novemberrevolution – Eine Untersuchung zu Lübeck im Ersten Weltkrieg
»Aber wir daheim? Erleben wir auch den Krieg? Sicherlich! [...] Die Änderungen unserer Ernährung und Lebenshaltung ist an sich nebensächlich. Sieht man tiefer in die Verhältnisse des Gemeinwesens, tiefer auch in den Haushalt der einzelnen hinein, so blickt der Krieg in allen Enden hindurch.« (aus dem Jahresrückblick der Lübeckischen Blätter 1917)
Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges – die ›Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts‹ – liegt fast 100 Jahre zurück. Er gilt als epochaler Einschnitt in unsere Geschichte und hat die Landkarte Europas völlig verändert. The Great War, wie ihn die Franzosen und Briten nennen, brachte einen politischen und gesellschaftlichen Wandel. Dies spiegelt sich beispielsweise im Deutschen Reich durch den Zusammenbruch der Herrschaftsstruktur wider: Während bei Kriegsausbruch noch viele Deutsche an einen gerechten Verteidigungskrieg für den Kaiser und das Vaterland glaubten, brachte vier Jahre später die Novemberrevolution, angeführt von Soldaten und Arbeitern, das Ende des Kaiserreichs und den Beginn der Weimarer Republik.
Als erster ›totaler Krieg‹ in der Geschichte betraf der Erste Weltkrieg jeden Mann, jede Frau und jedes Kind der kriegsführenden Staaten – anders als der zuvor vom Deutschen Reich geführte deutsch-französische Krieg 1870 / 71. Das Leben der Menschen in jedem Winkel des Reiches richtete sich erstmals ganz nach den Bedürfnissen des Krieges. Diese neue ›Heimatfront‹ war für die Versorgung der Soldaten lebenswichtig und führte für die Bevölkerung zu vier entbehrungsreichen Kriegsjahren. Ein neues Wahrnehmen und Erleben des Krieges setzte ein. Er veränderte die Lebensbedingungen wie Ernährung, Wohnen und medizinische Versorgung, griff in die private Sphäre des Familienlebens ein, veränderte die Rolle der Frau und des Mannes. Er ließ das blühende kulturelle Leben stocken und verwandelte die lokale Industrie in eine Kriegswirtschaft. Die Politik musste sich ebenso den neuen Herausforderungen des Krieges stellen wie die Krankenhäuser und Lazarette, welche die zunehmende Anzahl an Kriegsverletzten und -versehrten versorgen mussten. Die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts griff in alle Bereiche des täglichen Lebens ein und forderte von allen Menschen ihren Tribut.
Für mich als stadtgeschichtlich interessierte, in Lübeck lebende Historikerin stellt sich die Frage, was sich in diesen vier Kriegsjahren in meiner Stadt ereignete. Die eingangs zitierte Beobachtung lässt auf einen deutlichen Einfluss des Krieges auf den Alltag der Lübecker Bewohner schließen. Bisher bleibt jedoch noch ungeklärt, inwieweit das Leben der Bevölkerung, die Arbeit der ortsansässigen Industrie oder das Wirken der Politik vom Great War beeinflusst wurde. Wie bewältigten die Menschen in Lübeck den Kriegsalltag? Lassen sich die Ereignisse rekonstruieren und führen sie zu einem Bruch mit den altbekannten Strukturen?
Die Auseinandersetzung mit der hiesigen Forschungsliteratur zeigt, dass das Leben in Lübeck während des Ersten Weltkrieges bisher noch nicht Gegenstand einer umfangreichen Untersuchung war. Mit wenigen Ausnahmen wie beispielsweise der Aufsatz von Gerhard Meyer (Meyer, Gerhard: Erster Weltkrieg / Arbeiter- und Soldatenräte, in: Graßmann, Antjekathrin (Hrsg.) 1997: Lübeckische Geschichte, S. 677–685) oder der Beitrag von Arnd Reitemeier (Reitemeier, Arnd: Die Freie und Hansestadt Lübeck im August 1914, in: ZVLGA 84 (2004), S. 159–197) zum Augusterlebnis 1914 finden sich kaum Arbeiten zu diesem Thema. In einzelnen stadtspezifischen Abhandlungen sind kurze Überblicksdarstellungen zur Situation im Ersten Weltkrieg auszumachen.
Betrachtet man die Ereignisse in Lübeck in den Kriegsjahren, wie sie derzeit in der Forschung erkennbar sind, deutet nichts auf einen expliziten Umbruch hin. Die politischen und gesellschaftlichen Strukturen sind wohl nach 1918 die gleichen wie vor dem Krieg. Wie in anderen deutschen Städten litt die Bevölkerung in Lübeck unter Hunger und Not, Familien wurden auseinandergerissen und täglich wurden die Menschen mit dem Tod konfrontiert. Trotzdem fanden angeblich in der alten Hansestadt keine Arbeiteraufstände wie beispielsweise in den benachbarten Städten Hamburg oder Kiel statt. Selbst die Novemberrevolution, die in anderen Städten die Regierung stürzte, verlief hier ohne politische Folgen – der Lübecker Senat mit Bürgermeister Fehling blieb im Amt.
Mit meiner Dissertation über den Alltag in Lübeck während des Ersten Weltkrieges gehe ich der Hypothese des fehlenden Umbruchs nach. Anhand einer genauen Untersuchung der einzelnen Lebensbereiche der Lübeckerinnen und Lübecker möchte ich beleuchten, wie sich der Krieg auf das Leben in der Stadt auswirkte, und hinterfragen, ob sich doch ein Wandel in der Lübecker Gesellschaft aufzeigen lässt. Die gute Quellenlage des hiesigen Stadtarchivs bietet mit den vorhandenen Akten, privaten Aufzeichnungen und damaligen Zeitungen eine günstige Ausgangssituation für das Forschungsvorhaben. Mithilfe der unterschiedlichen Quellengattungen können die verschiedenen Facetten der einzelnen Lebensbereiche dargestellt werden. Ziel des Rekonstruktionsversuches des Lebens in der Hansestadt während der vier Kriegsjahre ist neben der Suche nach dem fehlenden Umbruch ein besseres Verständnis für die stadtgeschichtliche Entwicklung.
Diana Schweitzer legte nach dem Krankenpflegeexamen (1997) auf dem zweiten Bildungsweg 2002 das Abitur ab. Sie studierte Mittlere und Neuere Geschichte, Deutsche Philologie, Historische Hilfswissenschaften an der Universität Göttingen (2003–2010) und promoviert an der Christian-Albrechts- Universität zu Kiel.