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Lisa Renn, M.A.

Der zentrale Platz in der mittelalterlichen Stadt – Interdisziplinäre Untersuchungen zu Topographie, Gestalt und Funktion

Der Platz ist ein Element, das aus dem heutigen Stadtbild kaum mehr wegzudenken ist. Eine derartige Freifläche bildet oft sowohl das architektonische Zentrum der Stadt als auch den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, religiösen und politischen Mittelpunkt. Seine Geschichte ist vielfältig und untrennbar mit der Geschichte einer Stadt verbunden. Wie auch die Stadt selbst, ist der Platz im Laufe der Zeit Veränderungen in Gestalt, Wahrnehmung und Bedeutung unterworfen, da er den Bedürfnissen der Stadtherren und Bürger angepasst wird. Dabei ist auffällig, dass Plätze im Mittelalter nicht so selbstverständlich und typisch für eine Stadt waren, wie man aus heutiger Sicht annehmen sollte, denn bei genauerer Betrachtung der europäischen Stadtgründungen des 12. und 13. Jahrhunderts fällt auf, dass der Platz in einer ganzen Reihe von Städten fehlt.

Mein Dissertationsprojekt, das im Rahmen des ZKFL gefördert wird, widmet sich der Untersuchung des zentralen Platzes in der mittelalterlichen Stadt. Als Grundlage für die Arbeit dient die Beobachtung, dass vor allem südwestdeutsche Städte im Mittelalter selten mit einem zentralen Platz ausgestattet wurden (Freiburg i. Br. ist hierfür ein typisches Beispiel). Die Freiflächen, die heute dort zu sehen sind, sind sekundäre, spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Schaffungen. Dagegen besaßen norddeutsche und osteuropäische Städte wie beispielsweise Lübeck und Breslau bereits häufig schon im Mittelalter einen großen, zentralen Platz, der oft mit Marktkirche und Rathaus ausgestatten war. Diese Plätze wurden von vornherein in das Stadtbild eingefügt und stellten ein unverzichtbares Element der Planstadt des 12. und 13. Jahrhunderts dar. Es zeigt sich also, dass der Platz nicht überall in Europa als grundlegendes, quasi selbstverständliches urbanes Element der Stadt im Mittelalter angesehen werden kann.
Ziel des Dissertationsprojektes ist es daher zu untersuchen, wie typisch der Platz eigentlich für die mittelalterliche Stadt ist und welche Rolle er im Stadtgefüge spielt. Dabei soll der Frage nach den ausschlaggebenden Kriterien für die Entstehung von Plätzen, insbesondere auch den Gründen für die zeitlichen und räumlichen Unterschiede nachgegangen werden. Anhand einer vergleichenden Analyse wird der zentrale Platz in verschiedenen Städten des 12. bis 16. Jahrhunderts betrachtet, um überregionale Gemeinsamkeiten sowie regionale Besonderheiten und zeitspezifische Trends in Bezug auf Entwicklung, Gestalt, Nutzung und Wahrnehmung dieses innerstädtischen Raumes herauszuarbeiten. Da die Entwicklung von Städten im Mittelalter zwar ein überregionales Phänomen darstellt, doch von lokalen Gegebenheiten und politischen Strukturen beeinflusst wurde, liegt die Vermutung nahe, dass auch die Entwicklung der Plätze diesen Einflüssen ausgesetzt war.

Im Zentrum der Untersuchung steht der Markt in Lübeck. Aufgrund der großen Bedeutung der Stadt in Mittelalter als Zentrum des Hansenetzwerkes und nicht zuletzt auch aufgrund der guten und vielfältigen Quellenlage, eignet sich Lübeck sehr gut als Ausgangspunkt für die Untersuchung. Die Stadt entwickelte sich im Mittelalter rasch zu einem bedeutenden Zentrum und Drehkreuz im nordeuropäischen Handel. Der Markt, der vermutlich gleich bei der Stadtanlage geplant wurde und heute noch die Altstadt dominiert, wurde im Laufe des Mittelalters zum zentralen Platz der Stadt und damit zum wirtschaftlichen und politischen Zentrum Lübecks. Mithilfe des Vergleichs kann die Rolle Lübecks als Zentrum des hansischen Netzwerkes und ein möglicher Einfluss der Stadt auf weitere Hansestädte beleuchtet werden.

Um eine Basis für den Vergleich zu schaffen, wird der zentrale Platz bezüglich seiner Topografie (einschließlich seiner Entstehungsgeschichte), seiner Gestalt (seiner [Rand-]Bebauung, seiner ästhetischen und funktionalen Ausgestaltung) sowie seiner Funktionen (u.a. seiner Rolle im politischen und sozialen Leben der Stadt) untersucht. Dabei wird der Platz als urbanes Element betrachtet und seine Vielfalt an Funktionen, Akteuren, Einflüssen und Entwicklungen dargelegt. In meiner Arbeit soll ein interdisziplinärer Ansatz verfolgt werden, der die Archäologie mit der Mittelalterlichen Geschichte und der Kunstgeschichte verbindet, denn erst durch das Zusammenspiel von archäologischen, schriftlichen und bildlichen Quellen kann der Platz aus verschiedenen Blickwinkeln erfasst werden.

Seit den 1970’er Jahren haben auf dem Lübecker Markt und in seiner unmittelbaren Umgebung zahlreiche archäologische Maßnahmen verschiedener Größenordnungen stattgefunden. Diese sollen in Bezug auf die oben vorgestellten Aspekte gesichtet und neu ausgewertet werden. Darüber hinaus werden sowohl schriftliche als auch bildliche Quellen (Chroniken, Urkunden, Stadtbücher, Rechnungen, Stadtpläne und -ansichten) hinzugezogen, um somit mögliche Lücken in der Quellenüberlieferung zu schließen und weitere Facetten des Platzes zu erfassen. Der Platz wird als urbanes Element im Stadtgefüge in den Kontext der Stadtgeschichte gesetzt, um mögliche Bedeutungs- und Funktionsverschiebungen zu erfassen. Durch diese Herangehensweise sollen neue Sichtweisen in Bezug auf die Untersuchung von Plätzen erarbeitet werden. Dadurch möchte ich die kulturwissenschaftliche Raumforschung und die Mittelalterarchäologie näher zusammenbringen. Ziel ist es die zentrale Bedeutung des Platzes für die mittelalterliche Stadt darzulegen und mit Hilfe eines überregionalen, internationalen Vergleichs zu zeigen, welche gemeinsamen aber auch unterschiedlichen Auffassungen bestanden, wenn es darum ging, der Stadt ein städtebauliches, religiöses, wirtschaftliches und politisches Zentrum zu geben.

Lisa Renn (M. A.) absolvierte von 2007 bis 2010 ihr Bachelorstudium in Kunstgeschichte und Archäologie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn mit Schwerpunkt in der Klassischen und Vor- und frühgeschichtlichen Archäologie. Von 2010 bis 2014 absolvierte sie ihr Masterstudium im interdisziplinären Studiengang „Mittelalter- und Renaissance-Studien“ mit Schwerpunkt in Archäologie des Mittelalters an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Sie promoviert bei Prof. Dr. Sebastian Brather an der Uni Freiburg und wird seit Januar 2018 vom ZKFL gefördert, wo sie im Rahmen des „Lübecker Modells“ eine Volontariatsstelle im Bereich der Archäologie und Denkmalpflege innehat. Hier ist sie vorrangig auf Ausgrabungen in Lübeck tätig.


Publikationsliste:

  • Lisa Renn, Der Freiburger Münsterplatz – Archäologie und Geschichte (Blogbeitrag) oberrhein.hypotheses.org/1384.
  • Bertram Jenisch/ Lisa Renn, Zum Abschluss der archäologischen Ausgrabungen im Freiburger Augustinermuseum, Archäologische Ausgrabungen in Baden-Württemberg, 2016, 292-294.
  • Lisa Renn, Gräber im ältesten Kloster Lübecks, AiD, 5-2018, 66.