Ann-Mailin Behm
Soziale Netzwerke Lübecker Kaufleute im Spiegel ihrer Testamente 1450-1499
Als nordeuropäische „Weltstadt“, als „Haupt der Hanse“ mit vielfältigen Verbindungen u. a. nach Russland, Schweden, Norwegen und England, beheimatete Lübeck im Zeitraum des 15. Jahrhunderts um die 25.000 Einwohner. Darunter waren etwa 500 Kaufleute, die vor allen anderen Einwohnern Lübecks ein erhöhtes Sozialprestige erfuhren. Seit langem beschäftigt sich die historische Forschung mit der kaufmännischen Oberschicht in Lübeck (z.B. mit der Frage, ob es in Lübeck ein Patriziat gab) und entwarf und kritisierte soziale Schichtungsmodelle.
Für die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts jedoch, einer Zeit, in der die Überlieferungsdichte zunimmt und die Quellenlage des Stadtarchivs Lübeck überaus umfassend ist, fehlen genaue Erkenntnisse über die sozialen und gesellschaftlichen Vernetzungen der Kaufleute. Obgleich Quellen wie das Lübecker Ober- und Niederstadtbuch, die erhaltenen Bücher geistlicher Bruderschaften, die Überlieferungen vorrangig kaufmännischer Vereinigungen und vor allem die Testamente zu näheren Untersuchungen einladen, mangelt es an Forschungsarbeiten über Vernetzungen innerhalb der kaufmännischen Lebens- und Handlungsweisen, welche die vorhandenen Quellen systematisch auswerten.
Testamente eignen sich für so eine Untersuchung besonders gut, da man ihnen neben rechtlichen Bestimmungen auch verwandtschaftliche Aspekte, kulturgeschichtliche Hintergründe wie Frömmigkeit oder Vermögen sowie soziale Strukturen entnehmen kann, denn mit testamentarischen Bestimmungen können sowohl Wertschätzung oder Missgunst ausgedrückt als auch soziale Kontakte gefestigt oder geknüpft werden. Aus der Wahl der Bedachten und der so genannten Testamentsvollstrecker lassen sich Rückschlüsse auf die Beziehungen der Testierenden zu ihrem sozialen Umfeld und auch ihre gesellschaftliche Position innerhalb einer Stadt ableiten.
Der Testamentsbestand von 1450 bis 1499 im Archiv Lübeck bietet deshalb die Möglichkeit, die vielfältigen und sich stets wandelnden sozialen und wirtschaftlichen Strukturen innerhalb und außerhalb der Hansestadt nachzuvollziehen. Dieser ist bis jetzt aber im Gesamten von der Forschung weitestgehend unbearbeitet geblieben.
Im Zuge des Dissertationsprojekts werden die Lübecker Testamente aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts untersucht und ausgewertet. Im Vordergrund der Untersuchung stehen insbesondere die Testamente Lübecker Kaufleute und Fernhändler, deren familiären und geschäftlichen Strukturen herausgearbeitet werden.
Die Auswertung der ca. 14.000 Namenseinträge, die aus den untersuchten Testamenten herausgefiltert werden konnten, und ihre Verknüpfung untereinander ergab in Anlehnung an die Testamente von 1300 bis 1449 nicht nur eine Kontinuität der familiären Dichte bei Vormundschaftsnennungen – auch ist im Gegensatz zu allen vorherigen Untersuchungsergebnissen zu Lübecker Testamenten eine erhebliche Ausweitung des sozialen Lebens innerhalb bruderschaftlicher Vereinigungen auszumachen, die sich in den testmentarischen Vormundschaftsnennungen und Vergabungen widerspiegelt. Somit konnte eine ganz neue Ausprägung von Vertrauensnetzwerken aufgrund dieser meist berufsständisch geprägten Korporationen ausgemacht werden, von denen es in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts immerhin um die 70 in der Hansestadt Lübeck gab. Des Weiteren stellt nicht nur der in den Testamenten festzumachende Anstieg von Mehrfach-Mitgliedschaften (unabhängig vom beruflichen Hintergrund der Testatoren), sondern auch das in den letzten 20 Jahren des Untersuchungszeitraums vermehrte Nennen der eigenen Ehefrau als Vormund ein Novum dar und deutet auf ein sich allmälich änderndes Sozialverhalten der Testatoren und somit auf eine sich verändernde Gesellschaft Lübecks hin. Neben den innerstädtischen Verbindungen ergibt die Analyse aller außerstädtischen ("ausländischen") Vergabungen ein Netz, welches sich über fast den gesamten hansischen Handelsraum erstreckt (von London bis Narwa, von Trondheim bis Frankfurt).
Die Dissertation, die demnächst abgeschlossen wird, schließt zum einen an die bereits durchgeführten Arbeiten zu den lübeckischen Testamenten des 14. und der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts an (B. Noodt, 2000 / G. Meyer, 2010), stellt zum anderen jedoch die Erforschung der sozialen Netzwerke im spätmittelalterlichen Lübeck anhand von Testamenten auf eine qualitativ neue Stufe quellenbasierter historischer Netzwerkforschung.
Ann-Mailin Behm studierte von 2006 bis 2011 Geschichte und Politische Wissenschaften an der Universität Hamburg. Zunächst führte sie wissenschaftliche Recherchen für das Europäische Hansemuseum durch, bevor sie 2012 mit ihrer Promotion bei Prof. (em.) Dr. Hans-Werner Goetz begann. Nach Lehrtätigkeiten an den Universitäten Hamburg und Rostock arbeitete sie eineinhalb Jahre als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Archiv der Hansestadt Lübeck. Ann-Mailin Behm ist seit 2018 Vorstandsmitglied des Vereins für Lübeckische Geschichte. Für ihr Promotionsprojekt erhält sie eine einjährige Abschlussförderung des ZKFL.