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Julia Diekmann

Polyvalenzen im Bild: Carl Julius Mildes Porträts „Geisteskranker“

Im Prozess der Verwissenschaftlichung des „Wahnsinns“ kommt es infolge der Entwicklung spezifischer therapeutischer Ansätze zur Behandlung psychopathologischer Phänomene zu einer Ausdifferenzierung der Psychiatrie als Spezialwissenschaft. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts lassen sich im Rahmen dieses psychiatrischen Ausdifferenzierungsprozesses vermehrt Versuche beobachten, auch visuelle Medien zu nutzen, um klassifikatorische Unterscheidungen zu etablieren. So wurden autonome Künstler von Psychiatern und Medizinern beauftragt, Patientenporträts anzufertigen. Auf diese Weise konstituierte sich eine psychiatrische Abbildungspraxis, die Krankheit nicht nur mit Stift und Feder festhielt, sondern überhaupt erst als sichtbares Zeichen produzierte. Die aus diesen Aufträgen hervorgegangenen Zeichnungen fanden Eingang in wissenschaftliche Publikationen und Lehrbücher zur Psychiatrie und ersetzten in ihrer Eindrücklichkeit in weiten Teilen sogar den geschriebenen Text. In der Beschreibung des Krankheitsbildes wirkten sie gleichsam für sich.

In diesem Kontext der Ausdifferenzierung und Professionalisierung der Psychiatrie stehen auch die Porträtzeichnungen des Lübecker Künstlers und Naturforschers Carl Julius Milde (1803–1875). Zwischen 1828 und 1834 fertigte er ca. 70 Porträtzeichnungen „geisteskranker“ Patienten der sogenannten Irrenabteilung des Hamburger Allgemeinen Krankenhauses St. Georg an. Die Porträtserie Mildes lässt als eine der wenigen erhalten gebliebenen Serien dieser Art Rückschlüsse auf die Zusammenarbeit von Arzt und Künstler im künstlerischen wie auch medizinischen Arbeitsprozess zu. Im Dissertationsprojekt wird anhand dieser materialen Studien Mildes den ideengeschichtlichen Grundlagen und Narrativen des Wahnsinns an der Schnittstelle von Kunst- und Psychiatriegeschichte nachgegangen. Untersucht wird dabei insbesondere, wie sich an den Porträts die Wissensgenerierung einer neu entstehenden Wissenschaft ablesen lässt, bevor sich Klassifikationssysteme etablieren. Die These ist, dass Milde bei der Produktion der Porträts in der zeichnerisch genauen Abbildung Krankheit zugleich künstlerisch gestaltet und somit durch ästhetische Praxis medizinisches Wissen generiert. Im Gegensatz zu stereotypen Klassifizierungsmustern begegnen dem Betrachter in Mildes Porträts Spuren des gelebten Lebens, der verletzbare, vielleicht auch leidende Mensch, dessen Einzigartigkeit gerade aus dem Widerstand gegen das Drängen herrührt, ihn zu einem Objekt rationaler Wissenschaftlichkeit zu machen. Die Individualität dieser Bilder lässt sich nicht mit dem Ziel der sich konstituierenden Psychiatrie in Deckung bringen, Terminologien und Klassifikationssysteme für psychische Erkrankungen zu etablieren. Insofern machen die Porträts auch eine Spannung zwischen der wissenschaftlich-positivistischen Psychiatrie und der gestaltungs- und ideengeschichtlichen Visualität von Krankheit sichtbar. Darüber hinausgehend soll erörtert werden, inwiefern dem Wahnsinn in Mildes Porträts sogar ein subversives Potenzial inhärent ist, welches in Opposition zum psychiatrischen Regime die Differenz zwischen Medizin und Kunst verschwimmen lässt . So erlaubt ein an sich unfertiges Produkt dem heutigen Betrachter unter Hinzuziehung des ideengeschichtlichen Kontextes einen Blick, der sowohl über eine rein psychiatriegeschichtliche als auch über eine rein kunsthistorische Interpretation hinausgeht und somit die Trennung der Disziplinen durchlässig macht.

Grundlage für die Forschungen ist der künstlerische und schriftliche Nachlass Mildes im Behnhaus Drägerhaus, der Stadtbibliothek und dem Stadtarchiv Lübeck. Es ist geplant, die Ergebnisse des Dissertationsprojekts im Rahmen einer Ausstellung im Behnhaus Drägerhaus der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

 

Julia Diekmann, M. A., erlangte nach einer Ausbildung zur Bürokauffrau (1990) und anschließender Berufstätigkeit die Hochschulzugangsberechtigung (2008). Sie studierte Kunstgeschichte und Italianistik (2008–2014) an der Georg-August-Universität Göttingen. 2013 bis 2014 war sie dort Lehrbeauftragte am Seminar für Romanistik.

Seit 2012 arbeitet sie am Kunstgeschichtlichen Seminar und der Kunstsammlung der Universität Göttingen, wo sie seit 2014 promoviert. Julia Diekmann war Stipendiatin der 2. Förderrunde des ZKFL (2015-2017).


Julia Diekmann ist mit dem Christian-Gottlob-Heyne-Preis der Universität Göttingen ausgezeichnet worden. Diekmann ist Kuratorin im Forum Jacob Pins in Höxter. Den Preis erhält sie für die beste geisteswissenschaftliche Doktorarbeit des akademischen Jahres 2020/21. Ihre Arbeit trägt den Titel „Gestalten der Wahrheit – Carl Julius Mildes Porträts von Psychiatriepatienten“. Sie nimmt eine Analyse und Einordnung dieser zwischen 1828 und 1834 entstandenen Porträtzeichnungen sowohl aus kunsthistorischer als auch aus medizinhistorischer Perspektive vor. Die Arbeit in Buchform erscheinen, bereits 2019 wurden die Ergebnisse der Arbeit in der Ausstellung „Irr-Real. Carl Julius Milde das Porträt und die Psychiatrie“ im Museum Behnhaus Drägerhaus in Lübeck in einer von Diekmann kuratierten Ausstellung präsentiert. Zu dieser Ausstellung ist ein Katalog erschienen.