Christian Volkmann
Der Aufstieg zum ›König Dichter‹: Emanuel Geibel als literarischer Repräsentant seiner Zeit
Emanuel Geibel war der erfolgreichste Lyriker der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, vom Publikum verehrt, mit seinen Dichtungen Auflagenkönig, und ebenso von vielen seiner Schriftstellerkollegen als ›König Dichter‹ – so auch der selbstbewusste Titel eines 1840 von Geibel veröffentlichten Gedichts – bewundert. Heute ist er nicht nur aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden, auch die literaturwissenschaftliche Aufmerksamkeit bleibt Geibel inzwischen so gut wie völlig verwehrt. Geibel wird bestenfalls als zweitrangiger Dichter eingeschätzt, mit dem es sich nicht weiter zu befassen lohnt. Zumindest mit letztgenanntem Urteil aber irrt die Literaturwissenschaft, stellt doch Geibel für die Literaturgeschichte aufgrund seiner hohen damaligen Bedeutung eine Herausforderung dar.
Geibels außerordentlicher Erfolg und sein Aufstieg zum literarischen Repräsentanten seiner Zeit sind eng mit der Zeitgeschichte verknüpft, den literarisch- kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Konstellationen der 1830er und der Folgejahre. Ohne sie hätte Geibel nicht zu dem Phänomen (gemacht) werden können, das er tatsächlich darstellt. Zu fragen ist also nach der Passung zwischen zeitgenössischen Konstellationen und dem Leben und dem Werk Emanuel Geibels. Diese vermögen Aufschluss über den Literatur- und Kulturbetrieb und über die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen der mittleren vier bis fünf Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts zu geben.
Ziel meines Vorhabens ist es zu untersuchen, wie Emanuel Geibel zum erfolgreichsten deutschen Dichter und literarischen Repräsentanten seiner Zeit aufsteigen konnte. Zunächst soll dazu Geibels Leben – mit dem Schwerpunkt auf der Phase bis zu seinem Aufstieg – im Kontext der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse zwischen Wiener Kongress 1814 / 15 und 1840er Jahre dargestellt werden. Hier gilt es vor allem, die bürgerliche Herkunft und die Lebensbedingungen Geibels genauer zu erforschen. Es ist zu fragen, inwiefern die guten Beziehungen der Familie, aber auch deren politische Prägung Emanuel Geibels Entwicklung zum erfolgreichen Schriftsteller begünstigen. Kennzeichnend für seine Aufstiegsphase ist zudem das Spektrum seiner Kontakte und Beziehungen und wie er sich diese zunutze macht. Seit seiner Jugend korrespondiert Geibel rege mit Förderern und Größen des Literatur- und Kulturbetriebs sowie mit weiteren bedeutenden und einflussreichen Persönlichkeiten seiner Zeit. Vor allem diese Korrespondenz ist einer genaueren Analyse zu unterziehen.
Geibels Aufstieg fällt in eine Zeit einschneidender Umwälzungen und ungelöster Widersprüche. Soll das literarische Phänomen Geibel in seiner ganzen Tragweite erfasst werden, sind daher die entscheidenden Tendenzen des Zeitgeschehens und der Mentalitäten jener Jahre ergänzend zu skizzieren und mit der Biografie und dem Werk Geibels in Verbindung zu setzen. Um den Aufstieg und großen Erfolg Geibels nachzuvollziehen, kann sich eine Untersuchung allerdings nicht nur auf Biografisches und Zeithistorisches beschränken: Die in den Jahren bis 1850 veröffentlichen Gedichtbände und Dichtungen nehmen einen zentralen Stellenwert in dieser Untersuchung ein. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei dem lyrischen Inventar, das Geibel stilistisch wie thematisch (weiter-) verwendete und das von damaligen Lesern so gut angenommen wurde. Da sich Geibel Ende der 1840er Jahre bereits weitgehend als erfolgreicher und berühmter Dichter etabliert hat, bildet die Zeit um die Epochenschwelle von 1848 zeitlich den Abschluss der analysierten Werke.
Im Zentrum meines Erkenntnisinteresses steht Geibels Funktion innerhalb des und für das gesellschaftliche Subsystem Literatur um die Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem Ziel, daraus Ableitungen treffen zu können für eine Mentalitätssignatur dieser Zeit. Das erste Anliegen meiner Studie ist es insofern, Geibel biografisch zu erfassen. Der gesellschaftliche und politische Kontext sowie die geistigen, ästhetischen und politischen Strömungen sind zu skizzieren, um Geibels Bedeutung für seine Zeit nachvollziehbar zu machen und um dessen Reintegration in eben diesen geschichtlichen Kontext zu ermöglichen. Im Anschluss daran wird Geibels Lyrik nach ästhetischem und thematischem Inventar einer akribischen Betrachtung unterzogen.
Als Quellen der Untersuchung dienen die frühen Dichtungen und schriftlichen Zeugnisse Emanuel Geibels; ergänzt werden sie um die wenigen, vorwiegend literaturwissenschaftlichen Arbeiten zu Leben und Werk. Es sind diejenigen Materialien zu analysieren – Manuskripte, Briefe und sonstige Korrespondenz von (aber auch an) Geibel –, die Aufschluss über seine Aufstiegsphase zum ›König Dichter‹ geben. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei dem in der Stadtbibliothek Lübeck befindlichen Nachlass. Der Zugang zu und die Arbeit am Nachlass ist eine Voraussetzung für die Durchführung meines Dissertationsprojektes. Unerlässlich erscheint dies auch deshalb, weil sich an bisher erschienenen Beiträgen eine prekäre Quellenlage widerspiegelt – noch konnte der Geibel-Nachlass nicht hinreichend gesichtet, erschlossen und aufbereitet werden. Meine Arbeit soll eine erste Grundlage für diese Aufarbeitung darstellen. Vor allem soll durch die Untersuchung dieses und anderen bislang nur wenig berücksichtigten Materials dem Umstand Rechnung getragen werden, dass eine kulturelle und mentalitätsgeschichtliche Phänomene berücksichtigende Aufarbeitung des Werks und Lebens von Emanuel Geibel gegenwärtig noch aussteht.
Christian Volkmann studierte Germanistik, Wirtschaft / Politik und Vermittlungswissenschaft (Bachelor of Arts) bzw. Pädagogische Studien für das Lehramt (Master of Education) an der Universität Flensburg (2007–2011). Seit 2012 ist er als Lehrbeauftragter am Institut für Germanistik der Universität Flensburg, tätig.
2016 wurde er an der Europa-Universität Flensburg, mit seiner Dissertation unter dem Titel "Emanuel Geibels Aufstieg zum literarischen Repräsentanten seiner Zeit" promoviert.
2018 ist seine Arbeit in Berlin im Verlag: J.B. Metzler erschienen. ISBN 978-3-476-04806-6.