Franziska Schüßler
Inszeniertes Nichtwissen - Der ‚Historiker:innenstreit 2.0’ und warum sich Geschichtsrevisionismus wiederholt
“Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch” (Berthold Brecht)
Die deutsche Erinnerungskultur steckt in einer Krise, die mitunter als Historiker:innenstreit 2.0 bezeichnet wird. Dieser ist charakterisiert von einem häufig als binär dargestellten Konflikt zwischen Aufarbeitungen der beiden deutschen Gewaltherrschaften in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, namentlich des Kolonialismus und des Nationalsozialismus, mit den sie bestimmenden ideologischen gruppenbezogenen menschenfeindlichen Überzeugungen des Rassismus einerseits und des Antisemitismus andererseits. Eine Vielzahl von Akteur:innen in verschiedenen Institutionen sind daran beteiligt, doch leider wird die Suche nach gemeinsamen Lösungen häufig von Schuldzuweisungen überschattet. Gedenkstättenmitarbeitende beschuldigen Professor:innen, die Realität vor Ort zu verkennen, während Professor:innen Journalist:innen unterstellen, einen nicht vorhandenen Streit heraufzubeschwören. Einige Journalist:innen gehen soweit postkolonialen Akteur:innen vorzuwerfen, den Holocaust zu relativieren. Schon in dieser kurzen Aufzählung zeigt sich nicht nur wie divers die Positionen sind, sondern auch dass die verschiedenen Interessengruppen dabei in unterschiedlichen epistemischen Machtpositionen zueinander stehen und die Betroffenen zumeist nur als eine kleine Teilmenge der anderen Kategorien auftauchen.
Gleichzeitig erleben von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit geprägte Ideologien und Politik ihren stärkste Ausprägung seit 1945 und solche Positionen sind längst nicht nur in entsprechend radikalen Parteien oder Splittergruppen zu finden. Wie ist es möglich, dass innerhalb kürzester Zeit bis zu einem Drittel der Bevölkerung die offene Gesellschaft ablehnt?
Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, wie Antisemitismus und Rassismus, wird oft an den Rändern der Gesellschaft und in der Vergangenheit verortet, anstatt sie als integralen Bestandteil der Gesellschaft zu betrachten. Der moderne Antisemitismus und der Rassismus wie wir ihn heute kennen und verstehen sind etwa zur gleichen Zeit in Europa entstanden wie auch das neuzeitliche Verständnis von Wissenschaft und Menschenrechten. Sie befanden sich in zahlreichen teilweise widersprüchlichen Wechselbeziehungen, die bis heute nachwirken und unser Verständnis der Welt und des Zusammenlebens prägen.
Die epistemischen Machtverhältnisse, innerhalb derer Betroffene, Professor:innen, Gedenkstättenmitarbeitende, Zivilgesellschaft, etc. agieren sind ebenso historisch gewachsen und bestimmen, vereinfacht ausgedrückt, wer was wo auf welche Art lernen und lehren kann. Epistemischen Machtverhältnisse werden hier als eine Zusammenfassung verschiedener Konzepte wie beispielsweise epistemischer Gewalt, epistemischer Macht, epistemischer Ungerechtigkeit verstanden, die sich unter anderem in struktureller, institutioneller und individueller Ebene manifestieren und den gesamten Prozess der Wissensbildung und -vermittlung prägen. Sie bestimmen zudem, wer was wie verstehen kann und wer sich wie verständlich machen kann, sie haben eine hermeneutische Ebene.
An diesem Punkt setzt meine Arbeit an. Ich möchte der Frage nachgehen, ob eine vergleichende Betrachtung der epistemischen Machtverhältnisse innerhalb der beiden Erinnerungskulturen (sofern sie als getrennt zu betrachten sind), dazu beitragen kann den vermeintlichen Konflikt besser zu verstehen und dabei zu Erkenntnisgewinnen in Bezug auf beide zu gelangen.
Um die epistemischen Machtverhältnisse hinterfragen und aufbrechen zu können, müssen die genauen Stellen identifiziert werden, an denen sie wirken. Ich werde versuchen einige der hermeneutischen Aspekte der epistemischen Machtverhältnisse innerhalb der deutschen Erinnerungskultur auszumachen und herauszuarbeiten, sowie ihren Ursprung und ihre Wirkung in einem vergleichenden Ansatz zu beleuchten.
Als Grundlage hierzu dient ein Querschnitt an sowohl wissenschaftlichen als auch journalistischen Publikationen, sowie Beobachtungen auf erinnerungspolitischen und erinnerungskulturellen Veranstaltungen in Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Hamburg. Diese qualitative Untersuchung mit Instrumenten der analytischen Philosophie stellt keinen Anspruch auf Vollständigkeit irgendeiner Art kann in Zukunft hoffentlich ergänzt werden, durch sowohl qualitative als auch quantitative Studien einzelner Teilbereiche, insbesondere durch Betroffene, die in diesen Bereichen tätig sind.
Denn ungleich verteilte epistemische Machtverhältnisse sind nicht nur ein ethisches, sondern auch ein epistemisches Problem. Sie schränken nicht nur die Partizipation ein und perpetuieren gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, sondern sie schaden auch den Wissenssystemen selbst, an denen wir alle aktiv und passiv teilhaben, da eine große Menge Wissen nicht als solches wahrgenommen wird. Dies führt wiederum zu weiteren Ausschlüssen. Ziel meiner Arbeit ist es, einen kleinen Beitrag zu leisten, aus diesem Kreislauf auszubrechen.
Franziska Schüßler studierte Sprachen und Kulturen des Südostasiatischen Festlandes (Schwerpunkt Thailand, Laos), Philosophie und Lateinamerikastudien an der Universität Hamburg. In dieser Zeit engagierte sie sich u.a. im Fachschaftsrat für den Erhalt der Südostasienwissenschaften sowie die Neubesetzung der Professur für Thaiistik, was sie als studentisches Mitglied der Berufungskommission auch mit verwirklichen konnte. Anschließend studierte sie Wissenschaftsphilosophie an der Universität Münster. Im Zuge dieses Studiums absolvierte sie ein Praktikum im Archiv des Altonaer Museum. Ihre wissenschaftlichen Schwerpunkte liegen im Bereich der postkolonialen Theorien, epistemischer Ungerechtigkeit, Rassismusforschung, sowie Methodenkritik.
Die interdisziplinäre Arbeit wird betreut von Prof. Dr. Ulrich Krohs im Fachbereich Philosophie der Universität Münster. Ihr Dissertationsprojekt wird seit Oktober 2022 vom Zentrum für Kulturwissenschaftliche Forschung Lübeck (ZKFL) im Rahmen eines Promotionsstipendiums gefördert.