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Darya Yakubovich

Gerollte Geschichte. Diagramme des "Compendium historiae in genealogia Christi" des Petrus von Poitiers auf Rotuli Hälfte des 19. Jahrhunderts

Der herausragende Theologe, Mystiker, Pädagoge und Mnemonist Hugo von St. Viktor vergleicht in seinem Chronicon (um 1130) die Strukturierung des Wissens mit der Ordnung der Schätze in einem Schatzhaus.

Their orderly arrangement is clarity of knowledge. Dispose and separate each single thing into its own place, this into its and that into its, so that you may know what has been placed here and what there. Confusion is the mother of ignorance and forgetfulness, but orderly arrangement illuminates the intelligence and secures memory.

Hugos Anweisung scheint nicht nur das Erfassen von Kenntnissen zu beschreiben, sondern umfasst auch die Visualisierung des Wissens in Form von Diagrammen, die im europäischen Mittelalter zu einer dominanten Darstellungsform avancierten. Mittelalterliche Diagramme kombinierten schriftliche und visuelle Elemente von geometrischen Formen bis hin zu aufwendigen Bildern, um komplexe Ideen auf kraftvolle und einprägsame Weise zu vermitteln. Sie sind als Denkschemata zu verstehen, mit denen die Welt erfasst, dekonstruiert, neu konzipiert und kommuniziert wurde. Auffallend ist, dass mehrere bedeutende Werke mittelalterlicher Diagrammatik bisher noch nie oder nur selten einer gründlichen Erforschung ihrer Visualisierungsformen unterzogen wurden.

Das Dissertationsprojekt betrachtet eines der einflussreichsten Beispiele mittelalterlicher Diagramme, das Compendium historiae in genealogia Christi des Petrus von Poitiers aus dem 12.–13. Jahrhundert, welches eine auf das Wesentliche reduzierte Synopse des Alten Testaments in Form eines genealogischen Stammbaums von Adam bis Christus darstellt (Abb. 1). Angesichts der Weitläufigkeit der Heilsgeschichte und der Fülle des komplexen biblischen Materials sollte das Compendiumhistoriae den überforderten Scholaren helfen, die historischen Ereignisse im Gedächtnis zu behalten. Die Gestaltung, Funktion und Rezeption dieses diagrammatischen Werkes liefert wertvolle Einblicke in Denk- und Lernprozesse, Wissensvermittlung und Weltvorstellungen im Mittelalter.

Überliefert sind mehrere hundert Fassungen des Werkes aus der Zeit zwischen 1180 und dem frühen 16. Jahrhundert, die seine bahnbrechende überregionale Bedeutung bezeugen. Erstaunlich ist, dass im Gegensatz zu anderen Traditionen das Compendiumhistoriae gleichermaßen in Codices und auf Pergamentrollen überliefert ist. Die Schriftrolle MS Typ 216 aus der Houghton Library der Harvard University enthält sogar eine künstlerische Reflexion zu den Erscheinungsformen des Kompendiums und stellt zu Beginn des Werkes zwei Figuren dar, die sich jeweils mit einem Codex und einer Schriftrolle auseinandersetzen (Abb. 2).

Die Schriftrollen mit ihrem bescheidenen Breitenmaß und erheblichen Längenmaß der Schreibfläche waren perfekt dazu geeignet, die Aussagekraft des Geschichtswerks medial zu untermauern: Sie visualisieren eine kontinuierliche Bahn der Geschichte und lassen diese haptisch erleben. Eine ausgeprägte Symbiose von Inhalt, Form und Medium steht im Mittelpunkt des Dissertationsprojekts.

 

Darya stammt aus Minsk, Belarus, und hat Kunstgeschichte mit dem Schwerpunkt Mediävistik in Hamburg studiert. Während sich ihre Forschung über die Kulturgeschichte des Mittelalters erstreckt, liegt Daryas größtes Interesse in der Visualisierung mittelalterlichen Wissens. Derzeit promoviert sie an der Universität Tübingen über mittelalterliche Diagramme auf Schriftrollen. Vor Beginn ihrer Promotion arbeitete sie als Projektmanagerin für kulturelle Projekte in Hamburg und Lübeck. Darya ist Mitbegründerin von OUT FOR ART, einer Projektreihe, die sich insbesondere für das Empowerment junger Menschen durch zeitgenössische Kunst einsetzt und neue urbane Räume für Kunst und Kultur schafft. Ihr Dissertationsprojekt wird seit April 2024 vom ZKFL im Rahmen eines Promotionsstipendiums gefördert.

E-Mail: darya.yakubovich@student.uni-luebeck.de

Vorträge:
25.10.2024
"Diagramming the Itinerary of Christ in Two Roll Manuscripts of Peter of Poitiers’ Compendium historiae in genealogia Christi" (Konferenz "Diagrams in Dialogue. Visual Configurations and their Contexts", Eberhard Karls Universität Tübingen)