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Cecilia Raunisi

Gestaltung, Struktur und Funktion von Kompositionsskizzen: Johannes Brahms bei der Arbeit an der Idee

Johannes Brahms’ kompositorischer Schaffensprozess in den frühesten Phasen der Werkentstehung ist trotz umfangreicher Forschung zur Brahms-Philologie bis heute ein schwer zu überblickendes Feld. Gerade die erste Materialisierung einer kompositorischen Idee auf Papier hat aber von jeher das Bild des Komponisten zwischen „Handwerker“ und „Genie“ geprägt. Zugleich ist diese Schaffensphase nur punktuell überliefert, sodass hier die Abwägung zwischen allgemeinen Tendenzen und Einzelfällen konkreter Beispiele besonders schwerfällt. In diesem Promotionsprojekt, das auf den theoretischen Rahmen der genetischen Philologie zurückgeht, also der Disziplin, die sich mit der Rekonstruktion der Entstehung und Entwicklung eines Werkes durch die Analyse seines schriftlichen Textes beschäftigt, werden erstmals die erhaltenen Skizzen aus der frühen Phase des Schaffens von Johannes Brahms systematisch erforscht. Viele seiner Manuskripte, darunter höchstwahrscheinlich zahlreiche Skizzen und Entwürfe, hatte Brahms im Laufe seines Lebens absichtlich vernichtet. Offenbar wollte der Komponist die Spuren seines eigenen Arbeitsprozesses beseitigen. Diese Skizzen sind allerdings nicht nur für die heute Forschung von besonderem Interesse, sondern haben bereits von Anfang an die Aufmerksamkeit der Zeitgenossen geweckt. Etwa dreißig Skizzen sind bis heute erhalten geblieben. Dabei handelt es sich um vorbereitende Materialien für Kompositionen verschiedener Gattungen und Besetzungen, die die gesamte Schaffenszeit von Brahms abdecken.

In den 1990er-Jahren hat Bernhard R. Appel einen methodischen Ansatz vorgeschlagen, der heute als genetische Textkritik bekannt ist. Er stellt eine Synthese verschiedener philologisch-genetischer Ansätze dar, die auf Studientraditionen zurückgreifen, die in verschiedenen linguistischen Bereichen entwickelt wurden, darunter die französische „Critique génétique“, die deutsche „Skizzenforschung“ und die italienische „Filologia d’autore“. Die genetische Textkritik richtet ihr besonderes Interesse auf die materiellen Aspekte der Schrift. Im Gegensatz zu gedruckten Quellen, die eine „statische“ Texttypologie darstellen, können handschriftliche Quellen im Hinblick auf ihre „Textdynamik“ untersucht werden. Diese Textdynamik wird in Handschriften durch das Vorhandensein von metatextuellen Elementen, d.h. solchen innerhalb oder außerhalb der Schrift selbst, greifbar, die besonders in bestimmten Korrekturprozessen sichtbar werden. Diese Elemente sind für die Rekonstruktion einer Mikrochronologie des Kompositionsprozesses nützlich. Auf der Grundlage dieser modernen Untersuchungsmethoden sowie der bereits bei anderen Komponisten angewandten Skizzenforschung und der philologischen Brahms-Forschung, welche die Analyse zusätzlicher Dokumente wie Briefe und Notizen einschließt, ist es möglich, diese Quellen auf fruchtbare Weise zu analysieren und so den Studien der genetischen Philologie neue Perspektiven zu bieten sowie unsere Kenntnisse über den Schaffensprozess von Brahms zu vertiefen.

 

Cecilia Raunisi studierte Kommunikationswissenschaften an der Universität Messina und Klarinette an der Musikhochschule „V. Bellini“ in Catania. Im Jahr 2022 erwarb sie ihren Master-Abschluss in Musikwissenschaft an der Universität Pavia (Campus Cremona) mit einer Arbeit zum Thema „I testimoni per il Quartetto per pianoforte e archi, op. 26 di Johannes Brahms: una ricognizione geneti“ (Johannes Brahms’ Klavierquartett, op. 26: Eine genetische Untersuchung). Die Arbeit wurde von der Italienischen Gesellschaft für Musikwissenschaft (SIdM) mit dem Preis für die beste Abschlussarbeit auf dem Gebiet der Musikwissenschaft ausgezeichnet. Im Rahmen ihres Engagements für die Themen der genetischen Philologie in der Musik war Cecilia Raunisi 2020/21 Mitglied der „Fondo ricerca e giovani“ (FRG) Forschungsgruppe an der Universität Pavia, die sich mit der Problematik von Skizzeneditionen und deren möglicher digitaler Umsetzung befasste. Seit Oktober 2022 promoviert Cecilia Raunisi an der Christian-Albrechts-Universität (CAU) zu Kiel in binationaler Kooperation mit der Universität Pavia.

E-mail: cecilia.raunisi@stu.uni-kiel.de

Publikationen:

  • Johannes Brahms e Clara Schumann: storia di un carteggio e di una moderna edizione, in: I Quaderni dell’Istituto Liszt, Nr. 23 (2023), Libreria Musicale Italiana (LIM), S. 79–87.
  • I testimoni per il Quartetto per pianoforte e archi, op. 26 di Johannes Brahms: una ricognizione genetica. Percorsi, Anthology Digital Publishing [im Druck].