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Jakob Rieke

Indexikalität. Die neue Gewalt in der Musik

Die massenhafte Verbreitung von Tonträgern war ein einschneidendes Ereignis in der Musikgeschichte. Dass aufgezeichneter Klang zu kaufen und jederzeit praktisch überall abzurufen war, ließ ein neues „Format“ Musik entstehen. In den 1950ern entstand eine neue Praxis, die sich mit einem neuen Zeichengebrauch der bis dato vorrangig symbolvermittelten Musik entgegenstellte. Auf der Grundlage herkömmlichen musikalischen Materials richteten sich die auf Tonträger gebannten sounds mittels ikonischer und indexikaler Zeichen an ihr Publikum. Es entfaltete sich ein Spannungsfeld zwischen aufgeschriebener und aufgezeichneter Musik.

Auf der einen Seite dieses Spannungsfeldes steht das wohlgeformte, mit Intention und Subjektivität gefüllte, komponierte Werk. Es ist für die Aufführung gemacht und darum auf diese angewiesen. Als Komposition ist das Werk in Form des technisch reproduzierten Notentextes gültig. Auf der anderen Seite steht das von einem menschlichen Körper unmittelbar verursachte Geräusch – die ganze Palette vom Atem bis zum Schluchzer oder Schrei – welches nicht notierbar, nicht wiederholbar oder gar nachsingbar ist. Es ist auf den Tonträger angewiesen. Als Tonspur ist das technisch aufgezeichnete Geräusch jedoch die tatsächlich hinterlassene ‚Spur‘ einer singulären, realen Verursachung. Recorded sound wirkt schneller und kommunikativer als jede symbolvermittelte Kunst, er ist ein indexikales Zeichen. Ich muss nichts entschlüsseln, der sound dringt unmittelbar und kraftvoll zu mir durch!

Das Dissertationsprojekt widmet sich aus musiktheoretischer Perspektive dem genreübergreifenden Einsatz indexikaler Mittel und analysiert diese als spezifische Medieneffekte des recorded sound. Es wird diskutiert, ob die Verwendung indexikaler Zeichen ein exklusives Merkmal dessen ist, was Diedrich Diederichsen „Pop-Musik“ nennt. Kann Indexikalität nur unwillkürlich oder auch intentional eingesetzt werden? Ist eine indexikale Wirkung ausschließlich auf körperlich verursachte sounds zurückzuführen?

Ausgewählte Werke unter anderem früher elektronischer Musik, des Komponisten Fausto Romitelli oder der Band Pink Floyd werden der Musiktheorie als breiterer Quellenkorpus erschlossen. Analysen zeichnen das umfassende Bild der Genregrenzen sprengenden Verwendung von recorded sounds in Musik nach 1950. Interdisziplinäre Anknüpfungen an die Semiotik, Medientheorie, Informationstheorie und die sound studies fundieren die Analysen.

     

    Jakob Rieke hat Kirchenmusik, Musiktheorie und Schulmusik an der Musikhochschule Lübeck studiert. Seine Bachelorarbeit „Immersed in the Destructive Element. Literarische Einflüsse auf Fausto Romitellis Schaffen“ wurde 2021 mit dem Alumnipreis der MHL ausgezeichnet. Er war im Senat der MHL, als Mitglied im Verwaltungsrat des Studentenwerkes SH sowie zwei Jahre als Präsident des Studierendenparlaments hochschulpolitisch aktiv. Seit April 2024 ist Jakob Rieke Promotionsstipendiat am ZKFL und Doktorand an der Musikhochschule Lübeck sowie Sprecher der Stipendiat*innen-Gruppe des ZKFL. Neben seiner wissenschaftlichen Arbeit ist Jakob Rieke aktiver Komponist und Maler, dessen Werk bereits in mehreren Einzelausstellungen zu sehen war (jakobrieke.de).

    E-Mail: jakob.rieke@stud.mh-luebeck.de
     

    Publikationen:

    • Cycling in Tonal Space. Neo-Riemannian Theory in der dritten Dimension, in: A. Jeßulat, F. Wörner (Hrsg.), Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie, (2019, Nr. 1). https://doi.org/10.31751/1009.
    • Zur Glaubwürdigkeit der Lehrkräfte von morgen. Über die liberalistische Diskriminierung nachkommender Generationen, in: D. Bartels, R. Brudermann, L. Lemke, J. Ludwig, J. Rieke, Wie wollen angehende Musiklehrer:innen in Zukunft Musik machen? Visionen, Wünsche und Befürchtungen, in: R. Hüttmann, O. Krämer, A. Ziegenmeyer (Hrsg.). Diskussion Musikpädagogik. (2023, Nr. 4). Hildegard-Junker-Verlag, S. 33–40.