Sandra Braun
Antwerpener Retabel im Ostseeraum Südniederländische Altarbildwerke als Teil der ›Hansekultur‹
In den Jahrzehnten um 1500 entstanden in den Werkstätten der Welthandelsmetropole Antwerpen zahlreiche großformatige Flügelretabel mit vergoldetem und polychromiertem Schnitzwerk im Schrein und qualitätvollen niederländischen Tafelmalereien auf den Flügeln. Die Antwerpener- Retabel sind in nur kurzer Zeit zu einem gefragten Exportgut in ganz Europa geworden.
Die europaweite Verbreitung dieser Altarbildwerke ist von besonderer Bedeutung: Der Ostseeraum stellte bis zum Ende des 15. Jahrhunderts einen relativ einheitlichen Großraum dar, der von norddeutschen Kunstimporten mit Lübeck als wichtigstem Zentrum dominiert wurde. Die weitreichenden Exportbewegungen Antwerpener Retabel in den Ostseeraum hinein belegen, dass um 1500 die südniederländische Tafelmalerei und die damit verbundenen charakteristischen gestalterischen Mittel favorisiert wurden.
In der Diskussion um ihren kunsthistorischen Stellenwert kam den Antwerpener Altarbildwerken des 15. und 16. Jahrhunderts bisher eine untergeordnete Bedeutung zu. Vor dem Hintergrund der komplexen Produktionsmethoden in den Antwerpener Werkstätten (Vorratsproduktion, serielle Fertigung, Motivkonzeption, Arbeitsteilung) beschränkte sich die kunsthistorische Forschung auf eine Untersuchung der handwerklichen Qualitäten der Antwerpener Retabel, was zu der gängigen Bewertung dieser Altarbildwerke als ›Massenware‹ geführt hat. Den zumeist hochkomplexen, für einen bestimmten Aufstellungsort und als Teil größerer Ausstattungsprogramme konzipierten Auftragsarbeiten wird dieses kunsthistorische Urteil jedoch nicht gerecht. Die jüngere kunsthistorische Forschung, insbesondere zum Antwerpener Retabel von 1518 in der Marienkirche zu Lübeck, konnte die Notwendigkeit zur Neubewertung dieser Altarbildwerke belegen.
Im Dissertationsvorhaben sind die Antwerpener Retabel des 15. und 16. Jahrhunderts somit vor dem Hintergrund kulturhistorischer, geschichtswissenschaftlicher und frömmigkeitsgeschichtlicher Gesichtspunkte zu analysieren. Folgende Leitfragen sollen unter anderem beantwortet werden: Worin liegt am Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit die Funktion dieser Altarbildwerke? Lassen sich die Antwerpener Retabel als Ausdruck einer sich wandelnden Auffassung vom sakralen Bildwerk zum ästhetischen ›Kunstwerk‹ interpretieren, das das Bildungsbedürfnis des Rezipienten bedient? Waren die importierten Antwerpener Altäre als vormoderne ›Luxusartikel‹ Ausdruck eines gesteigerten Repräsentationswillens des Auftraggebers? Welche Visualisierungs- und Inszenierungsstrategien entsprechen diesem Repräsentationsbestreben der Auftraggeber?
Im Rahmen einer interdisziplinären Vorgehensweise und unter Nutzung naturwissenschaftlicher Untersuchungsmethoden sollen zunächst der Denkmälerbestand der Hansestadt Lübeck sowie die südniederländischen Werke im Ostseeraum systematisch erfasst werden. Darauf folgt eine vergleichende Analyse ausgewählter Einzelwerke sowie deren Einordnung in den jeweiligen übergeordneten Kontext. So können unter anderem exemplarisch Kriterien für die Stiftungspraxis und das memoriale Handeln in den Hansestädten erarbeitet werden.
Das Dissertationsprojekt wird zudem Fragen nach der Entwicklungsgeschichte der südniederländischen Altarbildwerke und den verschiedenen Bildaufgaben thematisieren, um Rückschlüsse auf Bindungen an westliche Traditionslinien und Kulturtransferleistungen zu ziehen.
In einem weiteren Abschnitt der Dissertation sollen die stilistischen Verflechtungen und verschiedenen Bezüge zwischen den Antwerpener Altarbildwerken in den verschiedenen Regionen herausgearbeitet werden. Dazu müssen zusätzlich zu den traditionellen kunsthistorischen Untersuchungsmethoden von Stilkritik und Typologie prosopografische Untersuchungen zu den einzelnen Personenkreisen erfolgen, um die komplizierten Beziehungsgeflechte zwischen den Künstlern, Werkstätten, Händlern, Zwischenhändlern, Agenten, Fernhandelskaufleuten und Auftraggebern der unterschiedlichen Regionen zu erfassen. Deren Netzwerke waren die Voraussetzung für die Vermittlung der Antwerpener Altarbildwerke aus den westlichen Zentren in den Ostseeraum. So können schließlich raumhistorische Beziehungen zwischen den Niederlanden und dem Ostseeraum ausgewertet werden. Abschließend thematisiert die Dissertation Kunsthandel, Kunstförderung und Kunstproduktion sowie die städtische Repräsentation in den Hansestädten der südlichen Ostseeküste im Vergleich mit dem skandinavischen Absatzgebiet.
Das Forschungsprojekt hat zur Aufgabe, nicht nur eine kunsthistorische Würdigung der Altarbildwerke südniederländischer Exportproduktion im Ostseeraum zu leisten. Durch eine interdisziplinäre Herangehensweise und unter besonderer Berücksichtigung geschichts- und sozialwissenschaftlicher sowie frömmigkeitsgeschichtlicher Gesichtspunkte soll vielmehr ein erweitertes Verständnis zur Stiftungspraxis im Ostseeraum, zu Formen liturgischer und nicht-liturgischer Memoria, zur Kunstvermittlung sowie zu kulturhistorischen Entwicklungslinien im 15. und 16. Jahrhundert geleistet werden. Die südniederländischen Importwerke im Ostseeraum können somit abschließend als wichtiger Teil der ›Hansekultur‹ und Quellen zur Hansegeschichte bewertet werden.
Sandra Braun studierte Kunstgeschichte, Klassische Archäologie, ev. Theologie, Mittlere und Neuere Geschichte, Ur- und Frühgeschichte an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (2001–2010). Sie arbeitete am dortigen Kunsthistorischen Institut (2010–2012), wo sie seit 2012 auch promoviert.