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Maria Dillschnitter

Die Hörgeräteversorgung im Spiegel von Wissen und Technik Eine soziologische Studie zur Wissensvermittlung in der Hörgeräteanpassung

Seit jeher ermöglichen technische Errungenschaften das Ausgleichen von körperlichen Defiziten. Eine rasante technologische Entwicklung räumen in der heutigen ›Wissensgesellschaft‹ medizinische und technische Versorgungsoptionen ein, die im letzten Jahrhundert noch nicht möglich waren. Die Bearbeitung der daraus entstehenden Folgen für das gesellschaftliche – und sozialtheoretische – Verständnis von Mensch und Technik wurde in verschiedenen Forschungsdisziplinen aufgegriffen und mündete in rege empirische und sozialtheoretische Diskussionen, die bis heute anhalten.

In der empirischen Realität scheinen zugleich die Widerstände seitens der Individuen gegenüber technischen Lösungen teilweise unüberwindbar zu sein: Trotz der hohen Anzahl der von Schwerhörigkeit betroffenen Personen, nämlich ca. 20 Prozent der Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland, sind ca. 70 Prozent dieser schwerhörigen Personen nicht versorgt, obwohl dies indiziert wäre. Während technik- und sozialdeterministische Argumentationen die Ursachen vor allem in den Folgen von unzureichender Qualität der Technik, Stigmatisierungsbefürchtungen und zu hohen Kosten sehen, wurde in den bisherigen Studien keine Aufmerksamkeit auf die sogenannte ›Anpassung‹ von Hörgeräten als den ›Ort‹ der Wissensgenese gelegt. In den Forschungen zur Hörgeräteversorgung, insbesondere zur Anpassung von Hörgeräten, ist eine sozialwissenschaftliche Perspektive nahezu gänzlich zu vermissen (die Ausnahme bilden die Forschung von Maria Egbert und der Forschungsgruppe der hearing aid communication; www.hearing-aids-communication.org). Das überrascht, da die (kulturelle) Bedeutung und Nutzung von Technik, das Verhältnis von Mensch und Technik – insbesondere Studien im medizinischen Kontext – genuin soziologische Forschungsfelder darstellen.

Die Hörgeräteversorgung als die medizintechnische Antwort auf die Kompensation von Schwerhörigkeit ist folglich empirisch in einem Spannungsfeld von technischer Entwicklung, subjektiven Bedürfnissen und sozialen Praktiken zu verorten. So zeichnen sich die komplexen und langwierigen Interaktionen einer Anpassung von Hörgeräten dadurch aus, dass schwerhörige Personen und ›intelligente‹ Technik erstmals aufeinandertreffen, um körperliche Defizite des Menschen durch immer neuere technische Innovationen zu kompensieren. Diesem Ziel nähern sich Akustiker und Kunden im Try-and-error-Prinzip: Die Lösung bestimmen die beteiligten Akteure unter den Gegebenheiten der soziotechnischen Arrangements. Die technischen Innovationen verändern dabei nicht nur die Grenzen und Möglichkeiten der Behandlung von Schwerhörigkeit, sondern wirken sich vor allem auf die konkrete Techniknutzung aus.

Wie sich die Nutzung von Technik gestaltet, hängt dabei immer von Wissensvermittlung ab (vgl. Rammert, Werner 2003: Wissen in Aktion). Wer weiß, wie ein Hörgerät zu bedienen ist, welche Möglichkeiten und Grenzen in die Technik eingeschrieben sind, aber auch wie die notwendige Software zur Einstellung dieser Technik anzuwenden ist, kann die technischen Möglichkeiten nutzen und – insbesondere im Falle der Hörgeräteversorgung – den Gesundheitszustand und damit die (Re-)Integration in die Gesellschaft beeinflussen.

Bedient man sich der pragmatischen Auffassung von Wissensgenese, die diese als Prozesse des Problemlösens begreift, so wird deutlich, dass Wissensvermittlung – definiert als Praktik der Techniknutzung – zum Aushandlungsfeld einer ›erfolgreichen‹ Hörgeräteanpassung wird, deren Zuschreibungen kulturell geformt sind.

Die Handhabung und Umnutzung von Technik als kreative, arbeitsteilige und materialisierte Praktiken soll nicht nur aus einer pragmatischen Perspektive beleuchtet werden, sondern mithilfe des Konzepts der Technikgenerationen (vgl. Sackmann, Reinhold / Weymann, Ansgar 1994: Die Technisierung des Alltags) dahingehend überprüft werden, ob sich Unterschiede in der Nutzung, Deutung und Vermittlung von Technik durch verschiedene Sozialisationserfahrungen mit digitaler und analoger Technik ausmachen lassen.

Ziel des Dissertationsprojektes soll es sein, die beobachtbaren Wissensbestände und die Nutzung der Technik zu analysieren. Dafür erscheint ein qualitativer Zugang sinnvoll, der den verschiedenen Akteuren und Institutionen Rechnung tragen kann, die bei der Herstellung und Vermittlung von Wissen innerhalb der Hörgeräteversorgung beteiligt sind. Dies erfordert ein multimodales Studiendesign, welches im Folgenden nur grob skizziert werden kann: (1) Inhaltsanalyse der Lehrbücher für Hörgeräteakustik, (2) (nicht-)teilnehmende (Video-)Beobachtung des soziotechnischen Ensembles (N = 12), (3) Leitfadengestützte Interviews mit von Schwerhörigkeit betroffenen Personen (N = 24), (4) Leitfadengestützte Feedback-Interviews mit Akustikern (N = 18).

Die Beobachtung der praktischen Nutzung der Technik ermöglicht die Rekonstruktion von Wissensbeständen, die in den Interaktionen eingebracht, hergestellt und modifiziert werden. Sie erlaubt auch die Rekonstruktion der Prozesse der Tradierung, unter denen die Wissensbestände immer wieder neu analysiert, hinterfragt und bewertet werden. Eine soziologische Perspektive, die den Umgang mit Technik in ihren konkreten Situationen der (Um-)Nutzung vor dem Hintergrund verschiedener Technikgenerationen analysiert, ermöglicht einen Blick auf die Prozesse der Wissensvermittlung und ihre interaktiven Praktiken in der Hörgeräteanpassung. Nicht zuletzt können so die kulturellen Deutungen und Erwartungsmuster aufgedeckt werden, die eine Hörgeräteanpassung mitgestalten.

 

Maria Dillschnitter arbeitete nach ihrem Studium der Diplom-Soziologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (2005–2011) als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaften (2011– 2012). Ab 2013 promovierte sie am Institut für Soziologie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.