Nadine Garling
Jüdisches Leben in Lübeck: Eine Untersuchung zur ökonomisch-sozialen Situation der Lübecker Juden und zur religiös-kulturellen Entwicklung der Gemeinde
»Mit den Thorarollen, die mit den alten Schmuckstücken der Moislinger Gemeinde in dem neuen Gotteshause Aufnahme gefunden hatten, war auch die alte Tradition der Gemeinde in die neue Synagoge eingezogen. [...] Die Israelitische Gemeinde in Lübeck hatte wieder eine Stätte des Gebets gefunden, in der, wie einst in der Moislinger Zeit, der Geist des Gotteswortes alle umfasste. Die Seele der Kehilla zu Moisling lebte nunmehr in Lübeck fort.« So skizzierte David Alexander Winter, Nachfolger Salomon Carlebachs im Rabbineramt, den Übergang der jüdischen Gemeinde von Moisling nach Lübeck und ihren Neubeginn in der 1880 errichteten Synagoge in der St. Annenstraße (Winter, David 1968: Geschichte der jüdischen Gemeinde in Moisling / Lübeck, S. 146).
Nach mehreren Zwischenstationen entstand dort das Zentrum der neo-orthodoxen Einheitsgemeinde, die durch Wohltätigkeitsorganisationen, Schulen und Vereine ergänzt und durch die fast 50-jährige Amtsperiode ihres Rabbiners Salomon Carlebach stark geprägt wurde. Um 1900 zählte die Gemeinde über 700 Mitglieder und war damit, obwohl zahlenmäßig nie besonders groß, neben Kiel, Hamburg und Altona zum Zentrum jüdischen Lebens in Norddeutschland geworden. Eine jüdische Gemeinde in Lübeck konnte sich allerdings erst seit 1852 im Zuge der Emanzipationsgesetzgebung etablieren. Zuvor war nur wenigen Schutzjuden das Wohnrecht eingeräumt worden. Eine organisierte jüdische Gemeinschaft entstand ab der Mitte des 17. Jahrhunderts außerhalb der Lübecker Stadtgrenzen im benachbarten und unter dänischer Herrschaft stehenden Dorf Moisling, wo sich vor Pogromen geflohene Juden aus Polen niedergelassen hatten. Sie entwickelten ein traditionelles, sehr gesetzestreues Judentum und unterstanden in allen religiösen Belangen dem Altonaer Oberrabbinat.
Kann die frühe jüdische Geschichte von Lübeck und Moisling in ihren Grundzügen als erforscht gelten, so bestehen bezogen auf die Situation der Juden Lübecks seit der Emanzipation 1852 noch erhebliche Forschungslücken. In meiner Doktorarbeit untersuche ich systematisch, wie sich die ökonomische und soziale Situation der jüdischen Minderheit und ihr Verhältnis zur nichtjüdischen Mehrheit in Lübeck beginnend mit der rechtlichen Gleichstellung bis zum Ende des Ersten Weltkrieges entwickelten. Die lange Zeit vorherrschende Ansicht, dass die Mehrheit der deutschen Juden ab der Mitte des 19. Jahrhunderts sehr rasch ins Bürgertum aufstieg, wird am Beispiel Lübecks kritisch überprüft. Darüber hinaus betrachte ich die Binnengeschichte der jüdischen Gemeinde Lübecks und ihrer assoziierten Institutionen und frage nach deren Transformationen und kulturellen Wechselbeziehungen und schließlich danach, inwieweit sich innerjüdische Debatten auf lokaler Ebene abbildeten.
In theoretischer Hinsicht nehme ich Bezug auf den in der deutsch-jüdischen Historiografie in den 1990er Jahren einsetzenden Paradigmenwechsel, der Geschichte nicht mehr von außen, sondern von innen betrachtet und die Bemühungen der deutschen Juden um einen gesellschaftlichen Zutritt zum Bürgertum und deren wachsende Aneignung von Bildung und Besitz verstärkt in den Blick nimmt. Neben der Untersuchung der sozialen, religiös- kulturellen und gemeindlichen Selbstorganisationsteht die Bandbreite jüdischer Selbstentwürfe und Identitäten im Fokus. Interne Vernetzung durch neue Formen der Vergesellschaftung und Kommunikation, insbesondere durch ein modernes Vereins- und Pressewesen seit Ende des 19. Jahrhunderts, spielen eine wichtige Rolle. Dadurch wurden jüdische Identitäten gestärkt und der Zusammenhalt in einer sich rasch verändernden Umwelt unterstützt. Zur deutsch-jüdischen Geschichte von innen gehören auch Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte der deutschen Juden, in deren Feld sich mein Promotionsprojekt verortet. Zur Ermittlung exakter Daten zum Entwicklungsprozess der jüdischen Bevölkerung Lübecks habe ich die Sozialstrukturanalyse als geeignete Forschungsmethode ausgewählt und werte unter anderem Volkszählungen, Adressbücher, Steuerlisten und weiteres bevölkerungsstatistisches Material aus. Die erhalten gebliebenen Gemeinde- und Verwaltungsakten sowie mehrere Selbstzeugnisse in Form von Tagebüchern und autobiografischen Berichten aus dem Archiv der Hansestadt Lübeck sowie aus weiteren deutschen und israelischen Archiven stellen wichtige Quellen zur Analyse der Binnengeschichte der jüdischen Gemeinde und der Lebensweise ihrer Mitglieder dar. Abschließend untersuche ich, ob ein begründeter Zusammenhang zwischen Sozialstruktur und dem Grad der Religiosität der Lübecker Juden besteht, mittels einer Gegenüberstellung von Zahlen zur Entwicklung des deutschen Judentums insgesamt sowie durch eine vergleichende Betrachtung von Entwicklungen und Tendenzen ausgewählter jüdischer Gemeinden. So soll die mikrohistorisch angelegte Arbeit gleichwohl über eine reine Lokalgeschichte hinausreichen und weitere Erkenntnisse im Bereich der Sozialgeschichte deutscher Juden sowie der Beziehungsgeschichte von jüdischer Minderheit und nichtjüdischer Mehrheit im mittel- bzw. großstädtischen Milieu am Beispiel Lübecks liefern.
Nadine Garling absolvierte nach dem Studium der Judaistik und Publizistik- und Kommunikationswissenschaft an der Freien Universität Berlin und Universität Wien (1999–2005) ein wissenschaftliches Volontariat im Jüdischen Museum Berlin (2006–2008) und arbeitete anschließend im dortigen Archiv (2008–2011). Seit 2012 ist sie Doktorandin im Fach Mittlere und Neuere Geschichte an der Universität Hamburg.