Kerstin Klein
"Epistolare Beziehungen". Die Briefkultur der Familie Mann als Modus der Distanzregulation
„Wintermäntel“– so wurden innerhalb der Familie Mann lange, „wärmende“ Briefe genannt. An diesem einen Ausdruck lassen sich bereits zwei Aspekte der Briefkommunikation der Manns aufzeigen: Zum einen beschreibt der Ausdruck den funktionalen Aspekt des Briefeschreibens, eine räumliche Distanz der Briefpartner zu überbrücken und mittels des Briefes einen Kontakt, Nähe oder sogar „Wärme“ herzustellen bzw. sich dessen zu versichern. Zugleich gibt der Ausdruck ein Beispiel für die spezifisch Mann’sche Briefkommunikation, die von einer ausgeprägten Familiensprache voller Anspielungen, bildhafter Ausdrücke, Spitznamen, rekurrenter Themen und Strukturen geprägt, nahezu codiert ist.
Die Familie Mann – gemeint ist hier die „Kernfamilie“ Mann, Thomas und Katia mit ihren sechs Kindern – war nicht nur eine Schriftsteller- und Künstlerfamilie, sondern auch eine Familie von Briefschreibern und -schreiberinnen. Es haben sich ca. 2000 Familienbriefe erhalten, die in der Zeit zwischen ca. 1920 bis ca. 1980 gewechselt wurden, während die Familienmitglieder verteilt über Länder und Kontinente lebten. Die sprachlichen Eigenheiten sind zwar das auffälligste Merkmal dieser Familienkorrespondenz, darüber hinaus lässt sich jedoch ein unsichtbares Regelwerk erschließen, das der Korrespondenz zugrunde liegt.
Das Erkenntnisinteresse der Arbeit liegt darin, die Funktionen dieser spezifischen Mann’schen Briefkultur aufzuzeigen. Dabei wird von den zwei Arbeitshypothesen ausgegangen, dass erstens der Zweck dieser Briefkultur darin besteht, die familiäre Gemeinschaft über räumliche Entfernung hinweg aufrecht zu erhalten und zweitens die Briefkultur Anwendung findet um – sozusagen ‚zwischen den Zeilen‘ – Positionierungen, Abgrenzungen und Rollen innerhalb der Familie auszuhandeln. Während also der Brief als Medium der Überwindung räumlicher Distanzen dient, dient die Mann’sche Briefkultur der Regulierung sozialer Distanzen innerhalb der familiären Beziehungen. Diese können sich vergrößern, verringern, ausdifferenzieren.
Da bisher keine Hermeneutik der Briefanalyse existiert, muss für das methodische Vorgehen ein eigenes Verfahren entwickelt werden. Erstmalig soll die Grenzüberschreitungstheorie Jurij M. Lotmans bzw. ihre Umformulierung durch Karl N. Renner für die Analyse von Brieftexten adaptiert werden. Dabei handelt es sich um eine strukturale narrative Theorie, mit der sich Handlung in Texten beschreiben lässt. Im Sinne eines weiten Textbegriffes soll auch die Materialität des Briefes als Text verstanden werden und Teil der Analyse sein.
In einem ersten Analyseschritt ist die spezifische familiäre Briefkultur anhand sämtlicher erhaltener Familienbriefe zu rekonstruieren, ihre Elemente und Besonderheiten müssen identifiziert und definiert werden. Ihre Anwendung stellt die ‚Norm‘ der brieflichen Familienkorrespondenz dar. Im anschließenden zweiten Analyseschritt soll anhand von Einzelbriefanalysen die Anwendung der Briefkultur zur Distanzregulation aufgezeigt werden. Vor allem Abweichungen von der Norm verweisen dabei auf potentielle ‚Ereignisse‘ innerhalb der familiären Kommunikation, die Ausdruck von Distanzregulation sein können.
Die Arbeit verfolgt drei Ziele: Erstens will sie einen Beitrag zur Mann-Forschung leisten, indem sie die Familienbriefe der Manns systematisch als Texte in sprachlicher und materieller Hinsicht untersucht. Die so gewonnenen Erkenntnisse können als Basis für weitere Forschungsfragen in Bezug auf die Briefe der Mann-Familienmitglieder dienen. Zweitens versteht sich die Arbeit ebenso als Beitrag zur Briefforschung, da ein Untersuchungsverfahren zur Analyse umfangreicher Briefkorpora vorgeschlagen werden soll, das sich zukünftig auch auf andere Bestände anwenden lässt. Drittens soll zudem die Briefsorte ‚Familienbrief‘ näher beleuchtet werden.
Kerstin Klein studierte Kulturwirtschaft an der Universität Passau sowie Literaturwissenschaft in Wien und Berlin. Nach einem Volontariat in einer Hamburger PR-Agentur war sie von 2009 bis 2013 Wissenschaftliche Mitarbeiterin für Sonderausstellungen im Buddenbrookhaus. Von 2014 bis 2018 war sie Projektleiterin und Kuratorin einer Ausstellung zum Re-formationsjubiläum bei der Nordkirche in Kiel. Sie hat die 2016 im S. Fischer-Verlag erschienene Edition "Die Briefe der Manns. Ein Familienportrait" mitherausgegeben und war Co-Kuratorin der Ausstellung "Thomas Mann. Democracy will win!", die 2020 im Literaturhaus München gezeigt wurde. Ihre Dissertation wurde durch das ZKFL im Zeitraum von 2018 bis 2022 gefördert.