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Michael Schütte

Günther Tessmann und der Transfer von Wissen. Lübeck als Wissensraum der Ethnologie am Beginn des 20. Jahrhunderts

Im Sommer 1907 brach der gelernte tropische Landwirt Günther Tessmann im Auftrag des Lübecker Museums für Völkerkunde zusammen mit seinem Zeichner und Fotografen Hans Jobelmann nach Zentralafrika auf, um dort in einer Frühform der ethnografischen Feldforschung vor allem im Süden der damaligen Kolonie Kamerun und im ‚Hinterlandʻ des damals spanischen Gebiets Río Muni die ‚Pangwe‘, heute Fang, zu erforschen. Diese in Lübeck geplante, größtenteils von dort aus finanzierte und fortlaufend unterstützte „Lübecker Pangwe-Expedition“ entwickelte sich zu einem großen Erfolg. Als Ergebnis dieser zweijährigen Expedition fanden neben zahlreichen Naturalien über 1200 ethnografische Objekte und viele andere Materialien der Fang und ihrer Lebenswelt den Weg von Zentralafrika nach Lübeck.

Aufgrund ihres Umfanges, ihrer Geschlossenheit und Vielseitigkeit bildeten die transferierten Objekte die damals bedeutendste Fang-Sammlung der Welt. Darüber hinaus wurden systematisch über einen langen Zeitraum hinweg und von verschiedenen Forschungsstützpunkten ausgehend Kenntnisse zur Sprache, zur Ergologie, zu magischen und religiösen Praktiken sowie zu Medizin, Geburt, Kindheit, Sexualität und zur Sepulkralkultur dieser Ethnie zusammengetragen. Dieser gründliche und eingehende Feldaufenthalt bei den Fang gilt als einzige umfassende und detailgetreue Darstellung der Ethnie im beginnenden 20. Jahrhundert und ist nach wie vor für die Forschungen zu den Fang von großer Bedeutung. Für den Nichtakademiker Tessmann wurde sie zum Grundstein seines Wirkens als Ethnologe im frühen 20. Jahrhundert. Die vielfältigen Aufzeichnungen, Tonaufnahmen, Karten, Fotos, Bilder, Modelle, Ethnographica und nicht zuletzt auch Naturalien bildeten ein Wissen zu den ‚Fremden‘ und ihrem Lebensraum am Rande der ‚europäischen Zivilisation‘, das zum Teil bis heute grundlegend ist oder sogar das einzige, das noch existiert.

Wie und unter welchen Bedingungen ist dieses Wissen entstanden? Wie, in welcher Form und mit welchen Implikationen fand es seinen Weg aus dem ‚Hinterlandʻ dieser Kolonien in die verschiedenen Orte der Wissensproduktion und -vermittlung im Kaiserreich und vor allem in Lübeck? Mit diesen Fragen möchte sich die Studie anhand einer kolonial- und wissenschaftsgeschichtlichen Analyse der Wissensobjekte dieser Expedition auseinandersetzen. Ziel ist es, Einblicke in die vielschichtigen kulturellen Prozesse zu gewinnen, in denen das moderne ethnologische Wissen in Wechselwirkung zwischen Zentrum und ‚kolonialer‘ Peripherie des Kaiserreichs Gestalt angenommen hat. Das Hauptaugenmerk liegt hierbei auf der „Lübecker Pangwe-Expedition“, die in der Studie konzeptionell als Wissensraum begriffen wird. Dabei nimmt die Studie die agency der Objekte im Prozess der Wissensgenese ernst und fragt gezielt nach deren Beitrag zur ethnologischen Wissensproduktion. Einhergehend mit einer kulturhistorischen Untersuchung der wissenschaftlichen Praxis geraten auf diese Weise sowohl der Beitrag von außeruniversitären Einrichtungen und Akteuren wie Museen, privaten Mäzenen, Regierungen als auch die Bedeutung kolonialer Infrastrukturen und der indigenen Bevölkerung in den Blick.

 

Michael Schütte legte auf dem zweiten Bildungsweg 2004 das Abitur ab. Er studierte Geschichte in Hamburg und Göttingen (2005–2013). In Italien arbeitete er als Archivar für die Evangelisch-Lutherische Gemeinde Bozen (2007–2008) und in Lübeck als Mitarbeiter des Projekts zur Bestandsdigitalisierung für die Völkerkundesammlung der Hansestadt (2014). Ab 2015 promovierte er an der Georg-August-Universität Göttingen. Die Arbeit wurde betreut von Prof. Dr. Rebekka Habermas.