Daniel Fleisch
Die ‚Chronik der kaiserlichen Stadt Lübeck‘ des Reimar Kock
Die zwischen ca. 1549 und 1567 durch den Pastor Reimar Kock verfasste Chronik der kaiserlichen Stadt Lübeck gilt als die wichtigste zeitgenössische Darstellung der hiesigen Stadtgeschichte in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Deshalb wurde sie im 16. und 17. Jahrhundert von allen Lübecker Chroniken am häufigsten vervielfältigt und von nachfolgenden Chronisten intensiv rezipiert. Aufgrund ihrer Bedeutung strebten moderne Historiker seit Anfang des 19. Jahrhunderts eine Edition an, allerdings wurde keines dieser Vorhaben bislang abgeschlossen: teils aus persönlichen Gründen, teils aber auch aufgrund der (dauerhaften oder vorübergehenden) Verluste von Bibliotheks- und Archivbeständen durch den Zweiten Weltkrieg. Deshalb liegen bis heute nur kurze Ausschnitte dieser Chronik in Druckform vor.
Ziel dieses Promotionsprojekts ist es, erstmalig eine Edition aller drei von Kock fertiggestellten und dem Lübecker Stadtrat überreichten Chronikbände zu erstellen. Eine Analyse dieses Werks kann nicht nur Erkenntnisse für die Lübecker Stadtgeschichte liefern, sondern darüber hinaus für kulturwissenschaftliche Fragestellungen, etwa im Bereich des kollektiven Gedächtnisses: Stellen Stadtchroniken das ‚Gedächtnis der Stadt‘ oder nur das bestimmter Gruppen oder Schichten innerhalb der Stadt dar? Welche Ereignisse gehen vom kommunikativen ins kulturelle Gedächtnis über und in welcher Form?
Im ersten Schritt des Projekts musste geklärt werden, ob noch ein autographes Original existiert, wie vereinzelt in der Literatur vermutet wurde. Da dies inzwischen widerlegt werden konnte, steht als nächster Schritt die Sichtung aller vorhandenen Abschriften an, aus denen eine Leithandschrift als Grundlage der Edition ausgewählt wird. Die meisten Abschriften sind heute im Besitz der Lübecker Stadtbibliothek, einzelne befinden sich aber auch außerhalb, etwa in Rostock und Kopenhagen. Den Versuch, in einer historisch-kritischen Edition einen dem verlorenen Original möglichst nahekommenden Archetyp zu rekonstruieren, halte ich für nicht mehr zeitgemäß. Ebenso möchte ich eine Wertung widerlegen, die Kocks Chronik von Historikern und Editoren des 19. Jahrhunderts entgegengebracht wurde: Während der Autor in den ersten beiden Bänden weitgehend Informationen von der Gründungszeit Lübecks bis 1499 aus älteren Chroniken kompiliert hatte, wertete er im dritten Band über die Zeit von 1500 bis 1549 neue Quellen aus und berichtete teils als Zeitzeuge. Deshalb neigte die moderne Geschichtswissenschaft lange dazu, den dritten Band als den wichtigsten oder interessantesten anzusehen, da die beiden ersten vermeintlich keine neuen Informationen gegenüber den älteren Werken lieferten. Diese Einschätzung halte ich in zweierlei Hinsicht für unangemessen und werde dies im Kommentar der Edition diskutieren: Erstens verwendete Kock auch schon vor dem dritten Band andere Quellen als die bereits existenten Chroniken, z.B. Dokumente seiner Pfarrei St. Petri. Zweitens zeigt sich auch dort, wo Kock Informationen aus älteren Chroniken übernahm, dass er keineswegs nur abschrieb, sondern durch eigene Schwerpunktsetzung und Wertung schon in den ersten zwei Chronikbänden ein neues Narrativ der Lübecker Geschichte schuf.
Daniel Fleisch schloss ein Magisterstudium der Politikwissenschaft und Slavischen Philologie an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz ab und arbeitete anschließend bei der Jewish Claims Conference in Frankfurt a. M. Danach war er als wissenschaftliche Hilfskraft am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik tätig und erwarb an der Frankfurter Goethe-Universität den Master in Geschichte. Im Anschluss arbeitete er als wissenschaftliche Hilfskraft am dortigen Historischen Seminar, wo er jetzt auch seine Doktorarbeit schreibt.
Publikationen:
(mit Jan Schedler:) Vorbild Deutschland. Rezeption der Autonomen Nationalisten in Europa, in: Jan Schedler/Alexander Häusler (Hg.): Autonome Nationalisten. Neonazismus in Bewegung, Wiesbaden 2011, S. 241-249.
Das Auftreten antisemitischer und nationalistischer Ressentiments in Protesten gegen die Systemtransformation, in: Dieter Bingen/Maria Jarosz/Peter Oliver Loew (Hg.): Legitimation und Protest. Gesellschaftliche Unruhe in Polen, Ostdeutschland und anderen Transformationsländern nach 1989, Wiesbaden 2012, S. 152-164.
(mit Markus Stich:) Tagungsbericht: Criminalizing Economies. Law, Distribution, and the Transformation of the Maritime World (1200–1600), 22.02.2018–25.02.2018, Frankfurt am Main, in: H-Soz-Kult, 27.10.2018, URL: www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-7902