Lea Kollath
Zwischen Hoffmann und Eichendorff − Der junge Johannes Brahms und die romantische Literatur. Eine interdisziplinäre Untersuchung zum Frühwerk
Das im populären Bewusstsein dominierende Brahms-Bild und die Forschungsliteratur werden vom reifen „bürgerlichen“ Komponisten bestimmt. Hinter dieser prägenden Vorstellung vom späten Brahms ist der junge schwärmerische Romantiker, der die Schriften von Ernst Theodor Amadeus Hoffmann und Joseph von Eichendorff mit Leidenschaft rezipierte fast verloren gegangen. Das am Brahms-Institut der Musikhochschule Lübeck angesiedelte Dissertationsprojekt nimmt den Jugendlichen und jungen Erwachsenen in seiner Passion für die romantische Literatur in den Fokus und zeigt ästhetische und strukturelle Parallelen zwischen seinem Frühwerk (1851−1854) und den poetischen Vorbildern auf. Die Arbeit will das Bild des frühen Brahms schärfen und durch einen nicht nur interdisziplinären und ideengeschichtlichen, sondern auch intertextuellen Ansatz auf ästhetischer wie analytischer Ebene innovative Perspektiven auf den bedeutenden Komponisten des 19. Jahrhunderts eröffnen. Inwieweit der junge Brahms in Anlehnung an Robert Schumann das Konzept einer poetischen Musik fortsetzt und damit von dem Klischee einer Gallionsfigur der Konservativen im musikalischen Parteienstreit des 19. Jahrhunderts abrückt, ist dabei eine der Leitfragen des Forschungsvorhabens.
Unter den romantischen Schriftstellern waren es vor allem Eichendorff und Hoffmann, die Brahms nachweislich prägten. Der junge Komponist führte in der relevanten Zeitspanne ein unstetes Wanderleben, das ihn ganz real in die Nähe der poetischen Sphäre des „Taugenichts“ rückte. Er vertonte zudem Eichendorffs Gedichte und zitierte sie in seinen Reisebriefen. Die enge Verbindung zu Hoffmann äußert sich u. a. darin, dass Brahms sich mit dem „Kapellmeister Kreisler“ identifizierte, einer Kunstfigur aus der Erzählwelt des romantischen Schriftstellers. Die Formel „Kreisler jun.“ führte Brahms sogar als Pseudonym und setzte sie unter die Handschriften einiger seiner frühen Werke. Auch die von Brahms in frühen Jahren komponierten Scherzi, die regelrecht als „Domäne“ des jungen Komponisten zu bezeichnen sind, stehen in direkter Nähe zur hoffmannschen Erzählwelt. Teils unheimlich-dämonisch, teils ironisch-aberwitzig spiegeln sie sowohl die düsteren Schauer-Elemente als auch die humoristischen bis grotesken Züge der Texte Hoffmanns.
Das spannungsvolle Verhältnis von Fantasie und Besonnenheit in der Musik, das Hoffmann immer wieder in seinen Texten thematisiert, tritt in Brahmsʼ Kompositionen ebenso ganz unmittelbar hervor. Vergleicht man seine ersten beiden Klaviersonaten, so zeigt sich die C-Dur-Sonate op. 1 in einem tendenziell klassizistischen Gewand, während sich die fis-Moll-Sonate op. 2 dem Romantisch-Fantastischen öffnet und stellenweise mehr an Franz Liszt erinnert als an Ludwig van Beethoven. Zudem changiert sie immer wieder zwischen Sonatensatz und fantasieartigem Gebilde, sodass es scheint, als wolle Brahms hier die beiden Pole von Fantasie und Besonnenheit musikalisch ausloten.
Kennzeichnend für Brahmsʼ Klaviersonaten ist außerdem ein stark liedhafter Andante-Satz. Dabei ist der Beginn des zweiten Satzes der C-Dur-Sonate op. 1 sogar mit einem Volkslied-Text unterlegt und das bereits in der musikalischen Textur sehr kantable Andante der f-Moll-Sonate op. 5 wird durch die vorangestellten Verse des Dichters C. O. Sternau (Pseudonym von Otto Julius Inkermann) ebenso ganz bewusst in eine poetische Sphäre geführt. Auch die von Brahms im Jahre 1854 komponierten Balladen op. 10 widmen sich einer Sonderform des Liedes und könnten durchaus als Erzähllieder ohne Worte aufgefasst werden. Insbesondere die Edward-Ballade entpuppt sich als ein dramatisches Dialoglied, das in seiner musikalischen Gestaltung stark durch den poetischen Kontext bestimmt wird. Auch in der romantischen Literatur nimmt das Lied − insbesondere das für die gesamte romantische Ästhetik hoch bedeutsame Volkslied – eine bemerkenswerte Stellung ein. Eichendorff integriert es immer wieder in seine Prosatexte, wie etwa in dem im Jahre 1812 vollendeten Roman Ahnung und Gegenwart oder der Novelle Aus dem Leben eines Taugenichts (1826). Eine reizvolle ideengeschichtliche Spiegelung tritt zu Tage, wenn man Prosatext und Sonate sowie poetisches Lied und Klavierlied miteinander in Beziehung setzt.
Sowohl das Frühwerk von Brahms als auch eine Vielzahl der romantischen Texte sind zudem von intertextuellen Spielarten durchzogen. Hoffmanns Roman Lebensansichten der Katers Murr (1819/1821) erweist sich beispielsweise als eine Zitat- und Formenmontage: Einer der beiden Erzählstränge, der parallel zu der Geschichte Kreislers verläuft, wird aus der Sicht des gebildeten Katers Murr geschildert, welcher sich ganz ungeniert sämtlicher Autoren der Literaturgeschichte bedient. Hoffmann reflektiert hier ganz bewusst die Themen Autorschaft, Originalität und Genieästhetik und die vorhandene Polyphonie lässt bereits Diskurse der Postmoderne erahnen. Solch ein wahrhaft polyphones Gebilde im Sinne verschiedener Sprecher-Stimmen liegt auch mit Brahmsʼ Schumann-Variationen op. 9 (1854) vor. Der Komponist greift hier Themen von Clara und Robert Schumann auf, die teilweise kunstvoll miteinander verflochten werden und hinsichtlich der Autorschaft bedient er sich eines auktorialen Verwirrspiels: Abwechselnd stehen die Initialen von entweder Kreisler oder Brahms unter den einzelnen Variationen, was an die im Hoffmann-Text ineinander verwobenen Erzählstränge erinnert. Ebenfalls bisher kaum in den Blick genommene Parallelen lassen sich außerdem in der Anwendung von Spiegelungstechniken aufzeigen. Im romantischen Roman wird die Makrostruktur des Textes häufig durch eine Miniaturszene gespiegelt. Ähnliche Beziehungen treten beim jungen Brahms auf, wenn beispielsweise die zweite der vier Balladen op. 10 als harmonischer „Brennspiegel“ für das gesamte Opus fungiert.
Das Forschungsprojekt nimmt diese intertextuellen Bezüge von Literatur und Musik in den Blick und untersucht dabei sowohl die motivationalen Gemeinsamkeiten als auch die Logiken ihres Einsatzes in den Kompositionen des jungen Brahms. Ziel des Projektes ist es, das Bild des jungen Brahms in seiner poetischen Lebenswelt und Nähe zur Literatur der deutschen Romantik zu skizzieren und in seiner Vielschichtigkeit und seinem literarisch-musikalischen Facettenreichtum zu würdigen.
Lea Kollath studierte „Musik vermitteln“ mit dem Hauptfach Klavier an der Musikhochschule Lübeck sowie Germanistik an der Universität Hamburg (Abschluss Master of Education). Seit Januar 2018 promoviert sie am Brahms-Institut an der Musikhochschule Lübeck über den jungen Johannes Brahms und die romantische Literatur. Ihr Dissertationsprojekt wird von Prof. Dr. Wolfgang Sandberger betreut und durch ein Stipendium des Zentrums für Kulturwissenschaftliche Forschung Lübeck (ZKFL) gefördert.