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Carola Oßmer

Die Erfindung vom normalen Kind: Die Entwicklungsnormen und Bildtechnologien aus Arnold Gesells Forschungslabor (1911–1948)

Entwicklungsnormen, mit denen wir bestimmen, ob ein Kind sich ‚normal‘ entwickelt, standen seit ihrer Entstehung unter Kritik. Für die einen nicht standardisiert und exakt genug, waren sie für andere Inbegriff von normativer Regulation und Normalisierung. Dennoch dienen sie bis heute als Maßstab für Eltern, Lehrer, Ärzte und Psychologen für die Beurteilung der Entwicklung von Babys und Kleinkindern. Entwicklungsnormen prägen eine weitverbreitete Vorstellung davon, was ein normales Kind, ja, was überhaupt ein ‚normal‘ ist. Doch wie und warum entstand dieses umstrittene Wissen über normale Entwicklung? Wer erfand das normale Kind? Meine Dissertation verfolgt die Entstehung der Entwicklungsnormen und der damit verbundenen Entwicklung von Normalität durch ein wissenschaftliches Forschungsprogramm, das ironischerweise mit Kritik an genau diesem Konzept vom Normalen begann.

Nach dem Ersten Weltkrieg entwarf eine Gruppe von Kinderentwicklungsforscherinnen und Filmemachern um den Yale Psychologen, Pädiater und Pädagogen Arnold Gesell fotografische und filmische Techniken, um visuelle Daten zur mentalen Entwicklung von Babys zu sammeln. Obwohl die Forscher mit ihren Bildtechnologien standardisierte Messungen des Normalen anzufechten versuchten, erschufen sie damit ein Set aus Normen. Diese Normen – auch bekannt als Meilensteine der Entwicklung – wurden zu einem weltweiten Standard in der Bestimmung kindlicher Normalität und formten ein universelles Verständnis davon, was ein normales Kind war. Letztlich trug Gesells weitreichende Theorie der normalen Entwicklung genau zu der Konzeption des Normalen bei, die er selbst kritisiert hatte.

Anhand von Archivquellen aus dem fotografischen Forschungsprogramm an der Yale University führt mich meine Forschung zurück zu der Entstehung eines selbstverständlich scheinenden Wissens über normale Entwicklung. Ich untersuche die Mechanismen hinter Gesells Entwicklungsnormen und ihrer Produktion und zeige damit, dass durch den Einsatz von Film und Fotografie eine neue Idee vom Normalen entstehen und sich als allgemeingültige Norm einer normalen Entwicklung verbreiten konnte. Im Fokus stehen die materiellen Aspekte der visuellen Technologie und der Medienproduktion, was eine neue Perspektive auf die Geschichte der Entwicklungspsychologie eröffnet, in der sich die Verbindung zwischen wissenschaftlichem Labor, privaten Haushalten und dem öffentlichen Leben zeigt. Meine Arbeit beleuchtet dadurch nicht nur das Verhältnis zwischen der Genese einer wissenschaftlichen Theorie und höchst populärem Wissen, sondern zeigt, dass das normale Kind aufgrund seiner visuellen Konstitution naturgegeben und selbstverständlich zu sein schien. Die Dissertation trägt damit auch zum historischen Verständnis der Idee von Normalität im 20. Jahrhundert bei und hilft, Wissen über die Natur des Menschen zu dekonstruieren.

Betreuung:
Christina Wessely (Lüneburg), Cornelius Borck (Lübeck), Christine von Oertzen (Berlin)

 

Carola Oßmer studierte Kulturwissenschaften und Ästhetische Praxis an der Universität Hildesheim. Nach Stationen beim Fernsehen, als Kulturmanagerin und als Politikberaterin, folgte sie ihrem Interesse für Geschichte und Wissenschaft mit einer wissenschaftshistorischen Promotion an der Leuphana Universität Lüneburg. Ihre Forschung brachte sie als Visiting Scholar an die Yale University, an die University of Cambridge und ans Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte. Sie erhielt Forschungsförderung vom Rockefeller Archive Center, die Förderung für Junge Perspektiven der Gesellschaft für die Geschichte der Wissenschaften, Medizin und Technik und war Stipendiatin der Leuphana Universität Lüneburg, der Böll-Stiftung und des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte (Abteilung Lorrain Daston). Ihre Dissertation wurde im Rahmen der Abschlussförderung durch das ZKFL von Januar bis November 2021 gefördert.

Ergänzend zu ihrer eigenen Forschung engagiert Carola Oßmer sich für ihr Fach als Vorstandsmitglied in der Gesellschaft für die Geschichte der Wissenschaften, Medizin und Technik (GWMT), im Leitungsteam des „Driburger Kreis“ für Nachwuchsforscher:innen sowie als Mitbegründerin und Organisatorin des Forums Geschichte der Humanwissenschaften. Sie unterrichtet zu Themen aus der Wissenschafts- und Wissensgeschichte, den Medienwissenschaften und der Kulturgeschichte.

 

Publikationen:

  • Carola Ossmer: Normal Development. The Photographic Dome and the Children of the Yale Psycho-Clinic, in: Isis, 111, 3 (2020), S. 515–541.        
  • Carola Oßmer: Zeitplan normaler Kindheit. Arnold Gesells Entwicklungszeitpläne und ihr kritisches Bild von Normalität, in: Viola Balz und Lisa Malich (Hrsg.): Psychologie und Kritik (Wiesbaden: Springer 2020), S. 117–140.

 

Abbildung: Arnold Gesell, Infancy and Human Growth (New York: Macmillan, 1928), p. 67